Die Kino-Kritiker

«Familiye»: Auf den Straßen von Spandau

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In ihrer derben Milieustudie «Familiye» folgen Sedat Kirtan und Kubilay Sarikaya einem Clan in Berlin Spandau bei seinen alltäglichen Problemen, bis verschiedene Brandherde explodieren und die Familie droht, daran kaputt zu gehen.

Filmfacts: «Familiye»

  • Start: 03. Mai 2018
  • Genre: Drama
  • Laufzeit: 102 Min.
  • FSK: 16
  • Kamera: Sergio Gazzera
  • Produzent: Moritz Bleibtreu
  • Buch und Regie: Kubilay Sarikaya & Sedat Kirtan
  • Darsteller: Kubilay Sarikaya, Muhammed Kirtan, Violetta Schurawlow, Arnel Taci
  • OT: Familiye (DE 2017)
Anfang des Jahres sorgte Moritz Bleibtreus Performance in Özgür Yildirims hartem Crime-Drama «Nur Gott kann mich richten» für offene Münder und viel Kritikerlob. Der gebürtige Münchner spielte die Rolle eines kürzlich aus der Haft entlassenen Straftäters mit voller leidenschaftlicher Inbrunst – und dem Regisseur gelang ein ungeschönter und doch hochgradig sensibler Blick in Frankfurts kriminelle Unterwelt. Auf der Promotour zu «Nur Gott kann mich richten» ließ Bleibtreu auf die Frage nach kommenden Arbeiten immer wieder «Familiye» fallen. Das seit über zehn Jahren in der Schwebe hängende Projekt, für das die beiden Regisseure und Drehbuchautoren Sedat Kirtan und Kubilay Sarikaya extra eine eigene Produktionsfirma in Leben riefen, ist seit zwei Jahren fertig und fand mit dem engagierten Moritz Bleibtreu einen prestigeträchtigen Namen, um «Familiye» endlich in zumindest kleinem Rahmen in die Kinos zu bringen.

Im Anbetracht des Endergebnisses ist es allerdings bezeichnend, dass sich zuvor kein Verleih für die derbe Milieustudie finden wollte. Die fehlende inszenatorische und erzählerische Konvention hin und her: «Familiye» ist ein mit jeder Menge Herzblut und einem Gespür für die Belange seiner Figuren ausgestattetes Projekt, das sich im deutschen Genrekino hervorragend positioniert. Ohne solche Projekte sähe es in der deutschen Kinolandschaft noch düsterer aus, als in dem Milieu, um das es hier geht.

Familie hält zusammen


Nach fünfjähriger Haftstrafe ist Danyal (Kubilay Sarikaya), der Älteste von drei Brüdern aus der Tanis-Familie, endlich wieder auf freiem Fuß. Seit dem Tod seiner Eltern hat er die Verantwortung für seine zwei jüngeren Brüder übernommen. Doch mit dem spielsüchtigen Miko (Arnel Taci) und dem verspielten Bruder Muhammed (Muhammed Kirtan) mit Down-Syndrom ist das alles andere als einfach. Als plötzlich Mikos Schulden fällig werden und Muhammed in ein Heim gesteckt werden soll, droht das fragile Gleichgewicht ihrer Existenz vollends aus der Balance zu geraten.

Der Name ist Programm: In «Familiye» geht es um drei Brüder, die sich in ihren eigenen vier Wänden im versifften Teil von Berlin Spandau ein eigenes kleines Familienidyll eingerichtet haben. Dabei ist „Idyll“ gar nicht ironisch zu verstehen – wenngleich Danyal nach fünf Jahren Knast endlich wieder auf freiem Fuß ist, der schwer übergewichtige Muhammad am Downsyndrom leidet und die Zustände um ihn herum gar nicht wirklich wahrnimmt und Miko an einer schweren Spielsucht leidet, die ihn nach und nach die Kontrolle über sein Leben verlieren lässt, haben sich die drei mit ihrer Situation arrangiert und sind zufrieden, solange sie einander haben; eben so, wie es eine Familie tut. Doch in «Familiye» sind Freud und Leid eng miteinander verknüpft: In einer der intensivsten Szenen des ganzen Films, und inszeniert als Plansequenz ohne Schnitt, sieht man Danyal und Miko erst sich gegenseitig verprügeln bis der eine dem Anderen aus Verzweiflung so lange die Luft abschnürt, bis sich Schaum vor seinem Mund sammelt. Zum Schluss fallen sich die Brüder weinend in die Arme; nicht wissend, wie sie die gegen die Wand gefahrene Situation überhaupt noch bereinigen können.

Denn auch, wenn in dem Milieu, in dem die Brüder verkehren, Gewalt und illegale Aktivitäten an der Tagesordnung sind, sind es doch vor allem die dagegen fast schon unspektakulär anmutenden Probleme, die in «Familiye» die größten Emotionen auslösen: die Aufopferungsbereitschaft der Brüder für den behinderten Muhammed, dessen Unterbringung in eine medizinischen Einrichtung sie um alles in der Welt verhindern wollen, sowie der ständige Kampf gegen Mikos Spielsucht.

Elegantes Schwarz-Weiß trifft auf Straßengangs und Gewalt


Als wäre das alles noch nicht genug, gibt es in «Familiye» allerdings noch zwei weitere Problemherde, die den Film zu mehr machen, als einer einfachen Momentaufnahme respektive Milieustudie. Da wäre zum Einen der Konflikt zwischen Danyal und einem wirklich üblen Zeitgenossen, zum Anderen das plötzliche Auftauchen der aus der Psychiatrie ausgebrochenen Silla, der der nichtsahnende Muhammed Unterschlupf in der Hochhauswohnung gewährt. Die Ereignisse um Silla, die die in «Allein gegen die Zeit» noch so enttäuschende Violetta Schurawlow mit voller Einsatzbereitschaft verkörpert (wenn sie gen Ende daran gehindert wird, auf die umstehenden Ärzte loszugehen und sich die Seele aus dem Leib brüllt, geht das in Mark und Bein über!), fügen sich nicht immer ganz so selbstverständlich in die Geschichte ein, wie der inhaltlich weitaus schlüssigere Part um Danyals Schuldeneintreiber. Das merkt man gerade am Ende, wenn die Ereignisse flüssig ineinanderlaufen und Sillas Schicksal dabei ein wenig außen vor bleibt.

Für zusätzlichen Zündstoff sorgt die junge Frau trotzdem und bringt einen guten Schuss Unberechenbarkeit in ein ohnehin schon brodelndes Umfeld. Gerade im Zusammenspiel mit dem naiven Muhammed ergeben sich darüber hinaus regelrecht zärtliche Momente, wenn sich hier zwei Menschen begegnen, ohne einander durch prägendes Vorwissen zu verurteilen.

Neben den emotionalen zwischenmenschlichen Momenten, die von hoher Sensibilität bis hin zu purer Gewalt reichen, jedoch nie vollkommen sinnlos platziert sind, ist «Familiye» vor allem inszenatorisch beeindruckend. Die beiden Autorenfilmer Sedat Kirtan und Kubilay Sarikaya kennen die Welt, in der ihr Film spielt; ihre Produktionsfirma trägt nicht umsonst den Namen ihres Viertels im Titel. Während sich unter den deutschen Darstellern hier und da leichte Ausreißer nach unten ausmachen lassen – es scheint ein wenig so, als wolle man sich nicht völlig auf diese Anarcho-Situation einlassen wollen –, sind die Dialoge der allesamt von nahezu unbekannten, dabei hochtalentierten Landsleuten gespielten Migranten durch und durch authentisch. Für ihr Projekt begegnen die Filmemacher ihren Figuren auf Augenhöhe und betrachten die Welt aus ihren Augen. Dazu gehört auch, ihnen Dialoge auf den Leib zu schreiben, die sie in exakt diesen Situationen so sagen würden.

Auch ein guter Schuss Straßenpoesie gehört dazu, etwa wenn der Rapper und Titelsonginterpret in einem Cameo-Auftritt als Bäcker Brot mit dem Leben vergleicht – und dafür auf den ersten Blick plakative, bei näherem Nachdenken aber umso greifbarere Worte findet. Auch in den eleganten Schwarz-Weiß-Bildern von Sergio Gazzera, von dem man sich gar nicht vorstellen kann, dass das hier seine erste Arbeit ist, steckt System. «Familiye» wirkt zeit- sowie ortlos und zwischendurch streut Gazzera immer mal wieder Traumsequenzen und Visionen ein, die der Szenerie etwas leicht Surreales verleihen. So viel ästhetisches Bewusstsein ist man von dreckigem Genrekino gar nicht gewohnt.

Fazit


«Familiye» ist ein selbstbewusstes Debüt, dessen Macher nicht bloß den Blick für ansehnliche Bilder haben, sondern auch ein Gespür für das Milieu und seine Figuren, die hier gleichermaßen ungeschönt wie verständnisvoll porträtiert werden.

«Familiye» ist ab dem 3. Mai in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.


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