Einschätzung zum deutschen «ESC»-Beitrag
Das Positive vorweg: Mit "You Let Me Walk Alone" wird sich Deutschland in Songwriter- und Produzenten-Kreisen bei weitem nicht so arg blamieren wie etwa im Vorjahr, als die arme Lavina ein altbackenes, beliebiges und völlig reizlos strukturiertes Stück Dudel-Pop hatte vortragen müssen. Michael Schulte ist hingegen ein erfahrener Künstler, der bereits einige hörenswerte Alben hervorgebracht hat, auch als Mensch hinter der von ihm vorgetragenen Musik steht und die Bühne einigermaßen gut ausfüllen dürfte. Bedauerlich ist, dass sein Lied eher an einen mittelmäßigen Track aus der früheren Ed-Sheeran-Ära erinnert und damit gewissermaßen musikalisch höherwertig langweilt. Zwischen Platz 10 und 22 ist damit viel möglich, persönlicher Tipp: Platz 14-17.Kommentar von Manuel Nunez Sanchez.
Im Grunde schon seit dem Rückzug Stefan Raabs nach drei sehr erfolgreichen Jahren zwischen 2010 und 2012 wartet der «ESC» in Deutschland auf einen großen Erfolg: Sowohl eiskaltes Dancepop-Kalkül als auch sympathischer Mädchen-Pop mit sanftem osteuropäischem Einschlag als auch der uncharismatisch-beliebige Radio-Mainstream der vergangenen drei Jahre haben nicht gefruchtet - weder international noch hierzulande, wo die jeweiligen Tracks und Künstler ebenfalls schnell wieder von der Bildfläche verschwanden. Wir haben uns der deutschen Bilanz seit 2007 einmal mit einer etwas anderen Herangehensweise gewidmet und werden in diesem Artikel darzulegen versuchen, ob und inwiefern die Einschaltquoten von Vorentscheid und Finalshow mit dem deutschen Abschneiden beim Wettbewerb zusammenhängen.
«ESC»-Vorentscheid: Schulte besonders schwach - aber auch Roman Lob
Was zunächst einmal sorgenvoll auf den kommenden Samstag blicken lässt, sind die Werte, die der deutsche Vorentscheid «Unser Lied für Lissabon» in diesem Jahr erzielte: Bei gerade einmal noch 3,17 Millionen Zuschauern wurden nur 9,9 Prozent aller sowie 8,5 Prozent der jüngeren Konsumenten eingefahren - was mit einer Ausnahme die schlechtesten Vorentscheid-Werte seit Ewigkeiten waren. Besagte Ausnahme war das «Unser Star für Baku»-Finale 2012, als Roman Lob als deutscher Act für das damalige Finale in Aserbaidschan vor gerade einmal 2,19 Millionen Zuschauern auserkoren wurde. Dieser Flop für Lob und Raab mag auf den ersten Blick überraschen, war das doch unser letztes erfolgreiches Jahr (Platz acht) vor der Rückkehr in die Tristesse, muss allerdings in einem größeren Zusammenhang betrachtet werden: 2012 lief nicht nur eine einzige Show, sondern derer unglaubliche acht und es war das dritte Jahr in Folge, dass man den Vorentscheid auf mehrere Abende verteilt hatte. Offensichtlich war das Publikum damals übersättigt von dermaßen umfassenden Selektionsmechanismen.
Seitdem eher wieder "Dienst nach Vorschrift" gefahren und der deutsche «ESC»-Teilnehmer an nur einem Abend gekürt wird, stachen im Grunde nur zwei Jahrgänge positiv heraus: 2014 gingen mit 3,93 Millionen Zuschauern jeweils 13,3 Prozent bei Jung und Alt einher, 2016 wurden mit 13,8 und 12,8 Prozent ähnlich hohe Marktanteile eingefahren, die damit verbundene Zuschauerzahl war mit 4,47 Millionen aber deutlich höher. Bei ersterem Vorentscheid wurde mit Elaiza die retrospektiv am wenigsten schlechte «ESC»-Entscheidung der vergangenen Jahre getroffen - hinzu kam ein emotional mitreißendes Duell zwischen den siegreichen "Davids" und dem "Goliath" Unheilig. Zwei Jahre später wiederum war der Vorentscheid bereits Wochen vorher in den Schlagzeilen, weil der NDR mit einer seiner zahlreichen unglücklichen Entscheidungen der jüngeren Vergangenheit besonders große Empörung hervorrief: Xavier Naidoo sollte eine Wildcard für den «ESC» erhalten, Deutschland lediglich über dessen Lied befinden. Stattdessen fuhr letztlich «The Voice»-Siegerin Jamie-Lee Kriewitz nach Stockholm - und wurde Letzte.
Der erfolgreichste Vorentscheid in den vergangenen zehn Jahren allerdings war ohne jede Frage «Unser Star für Oslo» 2010, als Lena Meyer-Landrut mit "Satellite" gewann und sich deutschlandweit zur Unsterblichkeit sang. Obwohl auch hier üppige acht Shows ausgestrahlt wurden, verfolgten das Finale damals doch 4,50 Millionen bzw. gute 14,6 Prozent aller sowie grandiose 20,3 Prozent der jüngeren Zuschauer - auch die mehrheitlich bei ProSieben gezeigten vorherigen Shows liefen überwiegend sehr ordentlich. Letztmals über fünf Millionen sahen übrigens 2006 zu, als sich Deutschland für Texas Lightning und "No No Never" entschied. Beim «ESC» folgte die wohl musikalisch am wenigsten nachvollziehbare Niederlage in der jüngeren deutschen Geschichte, mehr als Rang 15 war mit dem tollen und in den deutschen Charts auch höchst erfolgreichen Country-Poplied nicht zu holen.
Alles in allem sind die Einschaltquoten der Vorentscheide also eher mittelmäßige bis schwache Prädiktoren für das deutsche Abschneiden beim «ESC» und aufgrund der unterschiedlichen Herangehensweisen je nach Jahrgang auch nicht 1:1 miteinander vergleichbar. Auffällig ist allerdings, dass in den vergangenen sieben Jahren nur ein einziger Vorentscheid mehr als vier Millionen Menschen erreichte und insbesondere die Jahrgänge 2017 und 2018 mit nur noch etwas mehr als drei Millionen mit die größten Probleme hatten. Von einer Vorentscheid-Euphorie kann also derzeit gewiss keine Rede sein. Aber woher soll sie auch kommen?
«ESC»-Finals: Lena überragt alles
Wer sind die Favoriten des Jahres?
- Netta - Toy (Israel): Schrilles Pop-Huhn, das bei den Buchmachern wochenlang an der Spitze des Favoriten-Rankings lag, im Halbfinale aber nicht vollumfänglich überzeugte. Wird oft im Kontext der #MeToo-Debatte diskutiert.
- Eleni Foureira - Fuego (Zypern): Stimmgewaltiger Dance-Pop-Song, der kompositorisch vielen Genre-Klischees entspricht, aber mit einer gesanglich wie tänzerisch höchst professionellen Sängerin aufwartet. Hat nach dem ersten Semi-Finale deutlich zugelegt in den Prognosen.
- Madame Monsieur - Mercy (Frankreich): Mit Entspanntheit und Stil versucht dieser Song, einen musikalischen Gegenpol zu den oft effektüberladenen «ESC»-Auftritten darzustellen und kommt damit sowie mit seinem ernsten Text zum Thema Flüchtlingskrise insbesondere bei Hardcore-Fans und der Kritiker-Zunft hervorragend an. Dürfte vorne mitspielen, für den ganz großen Triumph vielleicht nicht memorable genug - und zu musikalisch.
- Alexander Rybak - That's How You Write A Song (Norwegen): Einigermaßen seichte Feelgood-Nummer vom charismatischen Fiedel-Entertainer aus Norwegen, der bereits einmal den Sieg für sein Land erringen konnte. Prognosen zufolge könnte er das Double holen, seiner starken Ausstrahlung sei Dank. Ein Sieg für herausragendes Songwriting wäre es gewiss nicht.
- Mikolas Josef (Tschechien): Eine der modernsten Produktionen des Jahres, wobei neben dem eingängigen, leicht funky angehauchten Sound auch die Bühnen-Performance heraussticht. Song mit ebenso großen Hit- wie Nervtöter-Qualitäten, in jedem Fall aber prägnant.
- Ieva Zasimauskaite - When We're Old (Litauen): Ein scheues, zerbrechliches Mäuschen lugte im ersten Semifinale zwischen den knalligen Party-Nummern von Tschechien und Israel hervor - und galt in dieser Konstellation bereits als verloren. Doch das fragile Lied über die Liebe im Alter wurde so herzergreifend und authentisch dargeboten, dass man es kaum nicht liebhaben konnte. Ein Geheimtipp.
- Benjamin Ingrosso - Dance You Off (Schweden): Nicht mit dem bekannten Landsmann Sebastian Ingrosso, sondern eher mit Justin Timberlake zu verwechseln ist der schwedische Beitrag in diesem Jahr, der einmal mehr professionell, zeitgemäß, aber irgendwie auch reichlich kalt und kalkuliert daherkommt - und auch gar nicht mal so ausdrucksstark gesungen wird. Dennoch dürften die Skandinavier auch diesmal wieder weit vorne mit dabei sein.
Die zwei Jahre, die hinsichtlich der Einschaltquoten aber weit vorne liegen, sind auch die beiden, an welche man sich noch heute besonders gerne zurückerinnert: 2010, als Lena sensationell den Sieg für Deutschland errang, sahen 14,69 Millionen Menschen zu und bescherten dem Ersten Deutschen Fernsehen grandiose 49,1 Prozent Gesamt-Marktanteil, während bei den 14- bis 49-Jährigen sogar 61,6 Prozent gemessen wurden. 2011, als der «ESC» in Düsseldorf stattfand und Lena noch einmal mit dem sehr sphärischen und experimentellen "Taken By A Stranger" Mut bewies, sahen 13,83 Millionen Menschen (49,3 bzw. 59,1 Prozent) zu. Die damalige «ESC»-Euphorie - angeheizt von einem Stefan Raab, der schon damals mit großem Ehrgeiz und Herzblut das Land aus seiner musikalischen Ohnmacht herausholte. Bedauerlicherweise ohne wirklich nachhaltigem Effekt.
Alles in allem lässt sich aber auch hier kein direkter Kausalzusammenhang zwischen Quote und Final-Platzierung ausmachen - wenngleich man sagen muss: in den vergangenen gut zehn Jahren gab es eigentlich nur die drei Raab-Jahre, die erfolgreiche Ergebnisse hervorbrachten, zwei davon mit Lena und jeweils rund 14 Millionen überragend erfolgreich. Die restlichen Jahrgänge erreichten meist zwischen sechs und neun Millionen, wobei Jamie-Lee offenbar mehr zugetraut wurde, als sie letztlich zu leisten imstande war und Roman Lob trotz guter Platzierung nicht die ganz große Begeisterung im eigenen Land entfachte. Und Michael Schulte? Nunja, wenn er unter die Top 20 kommen und um die acht Millionen Zuschauer erreichen sollte, dürfte er die ARD-Verantwortlichen rund um Thomas Schreiber wohl schon einigermaßen zufrieden stellen. Ein Stefan Raab ist ja aktuell nicht in Sicht.
Es gibt 11 Kommentare zum Artikel
11.05.2018 07:29 Uhr 1
Das Gegenteil ist der Fall, meiner Meinung nach. Versagen auf breiter Ebene.
11.05.2018 15:53 Uhr 2
Außerdem ist der ESC einfach viel zu politisch geworden und wegen Merkels Flüchtlingspolitik strafen uns die anderen Länder ab! Da kann man mir Widersprechen wie man will, es ist so. Beweis ist doch, das sich Nachbarschafftsländer die gut zueinanderstehen immer die Punkte zu werfen. Die Qualität des Songs ist kaum noch wichtig, die letzten waren schließlich ziemlich dünn. Dieses Jahr wird es wieder so sein.
11.05.2018 16:02 Uhr 3
Das ist schon immer so, dass die Kackländer sich die Punkte gegenseitig zuschieben, daher ist dein Merkelgeschwätz völliger Bullshit.
11.05.2018 16:11 Uhr 4
Ja klar, deswegen hat Portugal auch letztes jahr gewonnen, weil sie ja so viele Nachbarländer haben.
Ich fand, in den letzten beiden Jahren waren gerade die Siegertitel recht schwere Kost.
11.05.2018 16:42 Uhr 5
11.05.2018 19:45 Uhr 6
Ich habe dieses mal überhaupt keine Lust auf Power-Balladen-Rumgeschreie oder Schwermut-Betroffenheits-Songs. Hoffentlich ist genug Lustiges, Verspieltes oder völlig Verrücktes dabei.
11.05.2018 19:47 Uhr 7
12.05.2018 13:30 Uhr 8
12.05.2018 15:37 Uhr 9
12.05.2018 18:38 Uhr 10
Geht mir auch so.