Hingeschaut

Empörung! Das Erfolgsrezept der Sozial-Dokus

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Marktführung! Nicht selten knallten zuletzt die Korken bei RTL II. Der Grund? Die Programmfarbe Sozialdokus, die ganz einfache Hebel bei den Zuschauern bewegt. Eine Analyse.

Eines kann man RTL II wahrlich nicht vorwerfen: Dass es sich nicht immer wieder selbst erfindet. Das war schon 2012 so, als man als Antwort auf das immer schwerfälliger werdende «Big Brother» einfach eine gescriptete TV-WG erfand und somit «Berlin – Tag & Nacht» ins Leben rief. Die filmpool-Produktion ist auch heute, sechs Jahre später, noch eine sichere Bank im Vorabendprogramm. Mit authentischeren Figuren und Darstellern, so die Sendersichtweise, hat man das Genre der Daily Soap neu erfunden. Ähnlich verfährt der Sender nun auch in der Primetime.

Mit «Hartz & Herzlich» oder den Sozialdokus «Armes Deutschland – Stempeln oder Abracker» holt man nicht selten zweistellige Marktanteile in der Zielgruppe und ist damit teils sogar Marktführer im entsprechenden Timeslot. Dabei bedient sich vor allem letztgenanntes Format ganz einfacher Mechanismen. Denen des ungläubigen Kopfschüttelns. Pro Episode werden zwei bis drei Protagonisten(paare) begleitet. Dabei wird darauf geachtet, dass der Kontrast zwischen den gezeigten Figuren möglichst groß ist. Wirklich groß. So groß, dass man Ausrufezeichen setzen muss! Genau so, wie RTL II es mit diesem Format und den damit generierten Quoten tut.

Da waren kürzlich etwa zwei Junggesellen, glühende Fans von Hertha BSC. Beide ohne Arbeit, beide mit Hang zum Alkohol und leichten Drogen. Beide kommen ihrem Hobby auch ohne Job sehr gut nach. Oder ein Obdachlosenpaar, das seit einigen Monaten in einem Zelt schläft. Der Mann arbeitet, seine Partnerin nicht. Von den rund 1600 Euro, die verdient werden, gehen etwa die Hälfte für Zigaretten und Alkohol drauf, ein wesentlicher Betrag landet zudem in Spielautomaten. Ausrufezeichen! Dem gegenüber stand eine ältere Frau, die alleinerziehende Großmutter ist und jede freie Minute dazu nutzt, arbeiten zu gehen. Weil das aber nicht reicht, stockt das Amt quasi auf.

Die Botschaft, die übermittelt wird, ist vollkommen klar. Jede Pore brüllt es aus dem Zuschauer heraus, was für eine unfassbare Ungerechtigkeit das doch ist! Auf der einen Seite die gute und fürsorgliche Oma, die über Wochen jeden Euro spart, um der Enkelin ihre Wünsche zu erfüllen, und auf der anderen Seite die Menschen, die sich zu fein oder zu faul sind, normal arbeiten zu gehen. Auf dieser Ebene ist die Sendung per se erst einmal oberflächlich und stets nach Schema A produziert. Auch die an einigen Stellen explizit gestellten Fragen der Redakteurin, ob der Protagonist denn nicht arbeiten gehen will und ob er Jobangebot X nicht nutzen möchte, dienen wohl nur der Darlegung des eigentlich schon Offensichtlichen. Andere Folge, anderes Beispiel. Die Gegensätze sind enorm. Die Kameras begleiten einen Rentner, der sein ganzes Leben lang gearbeitet hat, sich aber seine kleine, aber teure Mietwohnung nicht mehr leisten kann - und deshalb sind (osteuropäische) Ausland auswandern will. Im Kontrast dazu wird die Geschichte eines jungen Paares erzählt, das auf Staatskosten lebt, ein Kind erwartet und darüber streitet, ob man während der Schwangerschaft das Rauchen aufhören sollte. Em-pör-ung!

Erst bei genauerem Hinsehen wird klar, dass auch hinter den eigentlichen Antagonisten der Serie eine meist tiefgründige Geschichte steckt. Oftmals liegt der Auslöser, der den Lebensweg in die bestimmte Richtung beeinflusst hat, schon in der Kindheit. Es gibt sie, die kurzen und emotionalen Momente in «Stempeln oder Abrackern» wo sich das Entsetzen über das Verhalten der Personen dann ein bisschen in die Richtung Mitleid oder vielleicht sogar Verständnis neigt.

Diese Gefühlslage ist aber nicht primär vorhanden. Denn eigentlich sehnt man sich weiterhin nach der doch bitte eintretenden Gerechtigkeit. Über die fürsorgliche Oma möge doch bitte endlich ein Geldsegen hereinbrechen, über die anderen der Staat urteilen. Oder wenn das schon nicht passiert, dann doch endlich die Einsicht und Vernunft einkehren. «Armes Deutschland» ist aber kein gescriptetes Format, das sich das Ende einer jeden Folge so hindreht, dass es den neutralen Zuschauer doch bitte zufrieden stellen möge. Mag sein, dass die Sendung auch deshalb so erfolgreich ist, weil sie somit auf Augenhöhe mit einer gewissen Zuschauer-Klientel agiert. Ein Happy-End gibt es – wie im echten Leben – eben nicht immer. Und so hofft der geneigte Zuschauer eben, dass in der kommenden Woche, bei der nächsten Folge, alles seinen „gerechten“ Gang geht. Tut es?

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