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Durch seine audiovisuelle Natur stellt der Film dabei eine einzigartige Symbiose der Kunstformen dar. Da das Medium zu Beginn der 1920er Jahre noch in einem vergleichsweise sehr jungen Stadium war, waren die Parallelen zum verwandten Theater noch deutlicher zu erkennen wie in den Jahrzehnten danach. Der Einsatz von Bühnenbildern war nahezu unumstößlich um die Illusion der Realität aufrecht zu erhalten und gerade in diesen liegt eines der auffälligsten Erkennungsmerkmale des expressionistischen Films. Schlüsselfigur ist der Bühnenbildner und spätere Regisseur Paul Leni, der sich für zahlreiche expressionistische Bauten verantwortlich zeigt. Obwohl die Bauten aus «Das Cabinet des Dr. Caligari» nicht aus seiner Produktion stammen, teilen sie doch dieselben Eigenschaften: verzerrte Hintergründe, bedrohlich geformte Umgebungen, gekrümmte Häuser und die unheimliche Aura, die von ihnen ausgeht. Auch das Spiel von Licht und Schatten, das stets die Schatten zu dominieren scheinen, ist eine Stilistik des expressionistischen Films, ebenso wie die entstellte und groteske Mimik und Gestik der Darsteller, die in einem solchen Ausmaße selbst für die Stummfilmzeit ungewöhnlich war.
Durch eben diese Merkmale wandern auch die Charaktere in Robert Wienes Film, der in kürzester Zeit enorme Popularität gewann. In einer Rahmenhandlung berichten sich zwei Männer in einem Park über die seltsamen Dinge, die ihnen in ihrem Leben wiederfahren sind. Einer der Männer, Franzis, erzählt von einem unheimlichen Erlebnis, woraufhin der Film in diese Erinnerung zurückspringt. Zusammen mit einem Freund besucht Franzis einen Jahrmarkt, auf dem der namensgebende Dr. Caligari auftritt. Dieser ist ein reisender Schausteller und präsentiert auf dem Markt den bedrohlich wirkenden Hellseher Cesare. Dieser sagt Franzis Freund seinen baldigen Tod voraus, woraufhin dieser in der folgenden Nacht ermordet wird.
Der Film offenbart dem Publikum, dass die Gestalt Cesare ein Schlafwandler ist, von Caligari zum Morden gesteuert. Franzis und seine Verlobte Jane begeben sich auf die Suche nach dem nächtlich zuschlagenden Mörder und entdecken, dass Dr. Caligari der Drahtzieher hinter dem schlafwandelnden Cesare ist. Daraufhin versuchen sie ihn zu überführen und finden heraus, dass ihr Täter Direktor einer Irrenanstalt ist (Anmerkung d. Autors: Dass die Formulierung der Nervenheilanstalt hier nicht zum Tragen kommt sei der damaligen Zeit geschuldet.). Letztendlich überführen und überwältigen sie den Mörder, Franzis Erzählung nimmt ein Ende und man ist wieder im Park, den die Zuschauer bereits aus dem Beginn des Films kennen.
An dieser Stelle zeigt sich der Geniestreich der beiden Drehbuchautoren Hans Jowitz und Carl Mayer. Nachdem Franzis seine Geschichte beendet hat, findet er sich selbst auf dem Hof der Innenanstalt wieder und inmitten der Patienten erblickt er Cesare. Der daraufhin auftretende Direktor der Anstalt ist derselbe wie in Franzis Erzählung: Dr. Caligari. In der Annahme, dass er eben jener Mörder ist, stürzt sich Franzis auf ihn, wird jedoch überwältigt und eingesperrt. Der Direktor beendet den Film, indem er triumphierend verkündet, dass er nun den Weg zu Franzis Genesung kenne.
Die Grenzen der Realität – verschwommen und unkenntlich und trotz der Darstellung auf der Leinwand nicht zu greifen. Eine Erzählung, die trotz ihrer Auflösung Interpretationsspielraum bietet und tief in die Psyche der Weimarer Gesellschaft blicken lässt. Die Parallelen zu Mary Shelleys 1818 veröffentlichen Roman Frankenstein lassen darauf schließen, dass sich die beiden Drehbuchautoren von der britischen Erzählung haben beeinflussen lassen. Ironisch, wenn man sich vor Augen hält, dass «Das Cabinet des Dr. Caligari» mit seinen expressionistischen Stilelementen wiederum die gleichnamige US-amerikanische Verfilmung des Buches von 1931 stilistisch beeinflusste.
Betrachtet man die Handlung dieses bedeutenden Weimarer Films jedoch nur als eine surreale Geschichte über Wahnsinn und Nicht-Wahnsinn, wird man ihr nicht gerecht. Die Tiefgründigkeit zeigt sich erst bei der näheren Betrachtung der sozialen Situation Deutschlands, die, wie bereits angesprochen, durch die Erlebnisse des vergangenen Weltkrieges in einem zerrütteten Zustand war. «Das Cabinet des Dr. Caligari» ist kein Versuch mittels maßen tauglicher Unterhaltung von der Vergangenheit abzulenken, sondern vielmehr die filmische Verarbeitung des Erlebten. Motive der Angst und des Schreckens sind allgegenwärtig und kleben förmlich an den Charakteren. Die Kontrolle über den willenlosen Cesare durch Dr. Caligari lässt die Interpretation des Machtmissbrauchs gegenüber den Schwachen und deren Instrumentalisierung zu, während die finale Janusköpfigkeit der Handlung die Fähigkeit des rationalen Denkens infrage stellt und den Verlust der eigenen Identität skizziert.
Darüber hinaus wirkt die Dramaturgie des Films so intensiv, da die Doppelbödigkeit der Handlung dem Zuschauer letztendlich zeigt, dass er mehreren Erzählebenen gefolgt ist, ohne es aktiv zu wissen. Dieses Element des Twists, der finalen und unvorhergesehenen Handlung ist in den Jahrzehnten danach zur Genüge adaptiert worden, unter anderem von großen Klassikern wie «Citizen Kane» (1941) und «Die Zeugin der Anklage» (1957).
Der Einfluss von «Das Cabinet des Dr. Caligari» lässt sich nicht nur in technischen Aspekten wiederfinden, sondern auch in der Präsentation der Narrative.
Dabei sollten die Schauspieler als das Herzstück vieler Filme nicht vergessen werden, schließlich schuf der vielschichtige Film mit einer seiner Schlüsselfiguren, Cesare, einen regelrechten Star. Nicht etwa der Charakter selbst, sondern der Mann dahinter, der Schauspieler Conrad Veidt, der für das expressionistische Schauspiel stand wie kaum ein Anderer. Durch seine Rolle in dem deutschen Kassenschlager gelang der Berliner zu großer Popularität und war dank seines starken körperlichen Schauspiels und seiner Exzentrik häufig in der Rolle des Antagonisten zu sehen. Seine nachhaltige Darstellung des Cesare gewann insbesondere durch seine unheimliche Mimik und Gestik an Wirkung und spätere Schauspielgrößen wie Boris Karloff schienen sich an Veidt zu orientieren, wie man in «Die Mumie» (1932) sehen kann.
Doch das deutsche Kino in der Weimarer Republik ist bei Weitem nicht nur der Film «Das Cabinet des Dr. Caligari». Diese neue künstlerische Bewegung war so viel mehr und beeinflusste auch noch Jahrzehnte später die Entwicklungen der Filmgeschichte. Was der expressionistische Film mit den Nationalsozialisten zu tun hatte und wie sich diese das Medium Film zu Nutze machten wird im nachfolgenden Teil erläutert.
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