Empfehlenswerte Artikel
- Wo sind die guten, alten Disney-Schurken hin?
- Popcorn und Rollenwechsel: Die besten Film-Kritiker
- Popcorn und Rollenwechsel: 'Schreib doch 'nen Bestseller'
- Popcorn und Rollenwechsel: Der «Hot Dog» und die Produktplatzierungen
- Popcorn und Rollenwechsel: Die nervigsten Sätze vor, während und nach Pressevorführungen
Filmtheorie unterscheidet zwischen diegetischem und nicht-diegetischem Ton. Diegetischer Ton findet innerhalb der Filmwelt statt. Eine Figur, die sich den Song "Tohuwabohu" aus dem vierten «Bibi & Tina»-Film als Klingelton eingestellt hat, wird auf ihrem Handy angerufen. Mitten in einem wichtigen Businessmeeting wird diese Figur angerufen, die stressige Grundsituation wird durch das muntere Lied unterbrochen. Eine Situation mit diegetischer Musik. Wir, das Publikum, hören etwas, das alle Figuren in dieser Szene hören. Es ist ein klanglich realer Moment.

Der Unterschied zwischen diesen beiden 'Klangwelten' ist nicht unerheblich. «Baby Driver» ist solch ein Kunststück von einem Actionfilm, weil Regisseur Edgar Wright es schafft, diegetische Musik so nahtlos in Verfolgungsjagden und Schießereien einzubauen, als befänden wir uns in einem galanten Musical. Einige Komödien spielen damit, ihr Publikum im Glauben zu lassen, wir hätten es mit nicht-diegetischer Musik zu tun, nur um eine absurde Situation zu zeigen, die klar macht, dass die Musik sehr wohl diegetisch ist. Mel Brooks lässt in «Silent Movie» ein Orchester in einem Bus durchs Bild fahren, um einen dramatischen Musikeinsatz in der Welt seines Films zu verorten. «Die Muppets» wiederholt dies, wenn Kermit, der Frosch, vor seinen Fans steht und der Klang eines engelsgleichen Chors zu hören ist – der gerade hinter ihm vorbeifährt.
Diese Begriffe lassen sich auch zweckentfremden, will man sich an die Definition eines Musicalfilms heranwagen. Grob gefühlt sind Musicals leicht zu erkennen: Ja, das sind halt diese Filme, wo oft gesungen und getanzt wird. In vielen Fällen reicht dieser grobe Eindruck, um Filme als Musical einzuordnen oder dem Rest des Filmkatalogs zuzuschreiben.

Aber: Steigt man erst einmal das Kaninchenloch hinab, findet man allerhand Filme vor, die sonderbare Grenzfälle darstellen. «A Chorus Line» etwa ist ein Drama über Frauen und Männer, die für ein Bühnenmusical vorsingen. Der «Walk the Line»-Logik nach ist dies kein Musical, da die Figuren halt einer realen Weltlogik folgen und ganz diegetisch vor sich hinträllern, statt sich in diese ganz eigene Musicallogik zu begeben, in der Gesang und Tanz normale Dialoge ersetzen und Hintergrundmusik aufploppt, wo in der Filmwelt keine existiert. «A Chorus Line» hat keine nicht-diegetische Begleitmusik, wie sie etwa «Mamma Mia» aufweist. «A Chorus Line» hat diegetische Musik. Also ist es kein Musical. Oder ist es doch ein Musical? Denn die zahlreichen Lieder in dem Film, die hier geprobt werden, sind gerissenerweise so geschrieben, dass sie auch die Gefühle und Persönlichkeiten der Figuren widerspiegeln.
Ähnlich verhält es sich mit dem Klassiker «Cabaret», in dem Songs als Bühnenauftritte dargestellt werden. Diverse deutsche Komödien aus den 60ern und 70ern wiederum haben ebenfalls zahlreiche Lieder aufzuweisen, die von Figuren gesungen werden. Jedoch bringen sie nicht die Handlung voran, sagen nichts über die Figuren aus. Stattdessen wird beim Wandern geträllert oder abends in einer Kneipe, um so beliebte Schlager einzubauen oder neue Schlager beliebter Interpreten zu bewerben. Da sind wir wieder bei «Walk the Line»-Logik, nur weniger anspruchsvoll.

Kurzum: Fachwörter können hilfreich sein. Aber es gibt Fälle, wo fachliche Definitionen scheitern. Ruft man zwei Dutzend Quellen auf und sucht nach einer Definition für Musicals, erhält man zwei Dutzend ähnliche, aber unterschiedliche Leitfäden. Dann ist das Bauchgefühl, so schwammig es sein mag, plötzlich doch wieder der bessere Ratgeber.
Es gibt 1 Kommentar zum Artikel
19.07.2018 12:42 Uhr 1
Interessant ist sowieso, dass sich Bewertung von Musik dem Mainstream viel weniger entsagt hat als besipielsweise die des Films oder der Serien. Bei der Oscarverleihung sind oft (teilweise prätentiöse) tiefgreifende künstlerische Filme nominiert, wohingegen in der Song-Kategorie die schmissigsten Lieder des letzten Kinojahres vertreten sind. Das selbe beim Grammy wo regelmäßig Bieber, Swift und Co für Best Album nominiert sind...