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Gerade der Faktor Zeit war für die Studierenden unerprobtes Gebiet. Sie sind es gewohnt, fürs Kino zu erzählen, noch dazu für ein arthouse-affines Klientel, und in der Form lässt sich das bei einer Webserie nicht umsetzen.
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Thilo Kasper
Lucas Thiem: Das war ein sehr wichtiger Aspekt für uns. Wir wollten, dass alle Folgen einen eigenen Spannungsbogen besitzen und allen Folgen die gleiche Struktur zugrunde liegt. Gleichzeitig war uns bewusst, dass die Serie von vielen Leuten an einem Stück geschaut wird, so dass sie auch als eine einzelne, rund 40-minütige Erzählung funktionieren musste. Da die ganze Geschichte an nur einem einzigen Abend spielt, rücken die einzelnen Folgen semantisch automatisch näher zusammen. Im Schnitt hat sich dann auch noch einiges getan – wir haben beispielsweise Cliffhanger gemildert, weil sie womöglich Erwartungen geweckt hätten, die die wiederum nächste Folge nicht eingelöst hätte.
Thilo Kasper: Dennoch war uns klar, dass es als Web-, noch dazu YouTube-Serie, formale Erwartungen gibt. Jede Episode muss einen Aufhänger sowie einen Neugier weckenden Schluss haben und sehr schnell viele Information vermitteln, weil das die Publikumsgewohnheit diktiert. Gerade der Faktor Zeit war für die Studierenden unerprobtes Gebiet. Sie sind es gewohnt, fürs Kino zu erzählen, noch dazu für ein arthouse-affines Klientel, und in der Form lässt sich das bei einer Webserie nicht umsetzen. Durch unsere Zusammenarbeit mit YouTubern haben wir dagegen Erfahrung darin gesammelt, wie man Dinge schneller und noch schneller erzählen kann, ohne den Bogen zu überspannen.
Lucas Thiem: Es ist sehr spannend, zu erforschen, was man im Web in Sachen Charakterzeichnung machen kann respektive muss. Typische DFFB-Filme beginnen da gerne mal mit 20 sehr stillen Minuten, in denen die Hauptfigur präzise eingeführt wird, was manchmal nicht allzu aufregend ist, aber nachvollziehbar wird und vor allem Empathie hervorruft, sobald Konflikte einsetzen. Und bei «Straight Family» geben wir dem Publikum völlig unbekannte Figuren, lassen sie direkt aufeinanderprallen und versuchen drumherum genügend Identifikationspunkte beizusteuern, um trotzdem auf unserer Seite und weiter neugierig zu bleiben. Unsere Figuren nehmen noch bis zur letzten Folge Konturen an – und es war unser Anspruch, dass sich das Publikum bis zuletzt fragt, was es über diese Konflikte noch alles herauszufinden gibt.
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Wir mussten früh feststellen, dass das eine sehr schwer zu nehmende Hürde ist, der sich in Deutschland sonst kaum jemand verpflichtet fühlt. [...] Zum Teil wissen die Castingagenturen gar nicht, wer von ihren Klientinnen und Klienten queer ist, da es ja immerhin eine intime Frage ist. Und dann war die nächste Herausforderung, Leute zu finden, die auch noch offen darüber reden wollen.
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Thilo Kasper über den Wunsch, queer zu casten
Lucas Thiem: Das war ein ungewöhnlich aufwändiger Prozess, wenn man bedenkt, in welch kurzem Zeitraum das Projekt entstanden ist. Zudem wollten wir unbedingt ein Produkt schaffen, mit dem alle Beteiligten zufrieden sind. Dazu kommt: Wir hatten vier Regisseurinnen, die gemeinsam für die Serie verantwortlich waren. Das bedeutet, dass vier Einzelpersonen, die sonst im künstlerischen Alleingang einen Langfilm stemmen, nun gemeinsam einen kleinen 40-Minüter zu besetzen hatten. Die mussten sich natürlich darüber einig werden, wen sie in diese Rollen stecken wollen. Wir haben für die sechs Hauptrollen innerhalb von drei Wochen gut 40 Leute persönlich eingeladen, natürlich noch weitaus mehr angefragt. Bei den Castings waren meist mehrere Regisseurinnen zugegen. Die, die an einem Termin keine Zeit hatten, bekamen genauso wie funk die Aufnahmen zur Verfügung gestellt. Und dann ging die Diskussion los ...
Thilo Kasper: Und was den Prozess weiter verkompliziert hat, war der Anspruch von funk, dass zumindest zu einem großen Teil queere Menschen vor und hinter der Kamera stehen. Wir mussten früh feststellen, dass das eine sehr schwer zu nehmende Hürde ist, der sich in Deutschland sonst kaum jemand verpflichtet fühlt. Vor allem war es schwer, Leute zu finden, die sich vor die Kamera stellen wollen – und zwar aus zwei Gründen: Zum Teil wissen die Castingagenturen gar nicht, wer von ihren Klientinnen und Klienten queer ist, da es ja immerhin eine intime Frage ist. Und dann war die nächste Herausforderung, Leute zu finden, die auch noch offen darüber reden wollen – jede Folge von «Straight Family» endet ja mit einem Statement des Casts und wir hatten uns gewünscht, dass der Cast auch über die Serie hinaus als Sprachrohr aktiv wird. Daher ging der ursprüngliche Wunsch, die Serie komplett queer zu besetzen, nicht in Erfüllung.
Stimmt: Castingprofile führen Gender, Größe, Alter, etwaige ethnische oder kulturelle Wurzeln auf, sowie Fremdsprachen- und Dialektkenntnisse. Nicht aber die sexuelle Orientierung. Was einerseits richtig ist, denn in den meisten Fällen sollte die Sexualität bei der Rollenwahl egal sein. Andererseits ist das zum Nachteil für Projekte, die sich vornehmen, die queere Community zu repräsentieren und das Casting daran zu orientieren …
Thilo Kasper: Homosexualität ist in der Schauspielbranche offensichtlich noch immer ein großes Stigma. Es gab dieses Jahr zwar ein paar Schauspieler, die sich geoutet haben, was auch total gut ist und wichtig, um diese Vorurteile abzubauen. Nur hat es leider auch verdeutlicht, dass die Leute riesige Angst um ihre Karriere haben, und daher große Furcht, darüber zu reden. Und wir wollten mit «Straight Family» queere Vorbilder, wenn man so will Influencer, aufbauen, bei denen das Publikum weiß, dass es auf sie zukommen kann.
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Man will Leute ja nicht ungefragt outen oder sie dazu zwingen, sich zu outen. Trotzdem müssen mehr Role Models für queere Menschen her.
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Thilo Kasper
Thilo Kasper: Ja, das ist ein richtig gefährlicher Drahtseilakt. Man will Leute ja nicht ungefragt outen oder sie dazu zwingen, sich zu outen. Trotzdem müssen mehr Role Models für queere Menschen her. Dieses Dilemma war eine sehr interessante, wichtige Erfahrung für uns.
Wird funk denn demnächst weitere queere Produktionen starten?
Thilo Kasper: Gender, Identität und sexuelle Orientierung sind wichtige Themen für unsere Zielgruppe und finden in vielen Formaten bei funk statt, z.B bei unserem YouTuber Kostas Kind, im Talk-Format «Auf Klo», der Webserie «Druck» und verschiedenen Reportage-Formaten. Weitere Formate mit Fokus auf queere Identitäten sind in der Entwicklung.
Vielen Dank für das Gespräch.
«Straight Family» ist ab über die funk-App und bei YouTube abrufbar.
Es gibt 8 Kommentare zum Artikel
12.09.2018 08:53 Uhr 1
12.09.2018 09:32 Uhr 2
2. Bevor sich jemand aufregt: das schließt das natürlich nicht aus, dass einzelne Personen dieser Gruppen individuelle Diskrimierungserfahren machen. Nur handelt es sich dabei eben nicht um die vorgenannten Dinge, da sie, wie gesagt, individuell sind und nicht strukturell.
3. Wer behauptet, die Allgemeinheit wäre oder handelt (auch das ist ein Unterschied, den ich jetzt aber nicht vertiefe) nicht zum großen Teil rassistisch, sexistisch und eben homophob, der sitzt nur gemütlich auf seinen Priviliegien, dem mangelt es an Empathie, der ist Teil des Problems.
12.09.2018 09:47 Uhr 3
Danke sehr! :!:
12.09.2018 12:43 Uhr 4
So sehe ich das auch! Es wird niemand abstreiten, daß es immer noch homophobe Leute gibt, aber das auf die Allgemeinheit zu projezieren ist genau so abwegig wie die Behauptung, dass es keinen Sexismus oder sexuelle Belästigung gegen Männer oder Rassismus gegen Weiße gibt.
Aber gut. Was will man von einer Gesellschaft erwarten, die vor political correctness nur so strotzt und in der man nicht Mal die bekannteste dunkelhäutige Tennisspielerin karikieren darf ohne selbsternannte Sittenwächter auf den Plan zu rufen, die die Rassismus- und Sexismus-Keule schwingen :roll:
12.09.2018 13:13 Uhr 5
1 a: Es gibt sehr wohl Rassismus gegen Weiße! Allerdings eher in afrikanischen Staaten, wo Weiße in der Minderheit sind.
2 b: Das es sehr wohl Sexismus gegen Männer gibt sieht man momentan ja an einem prominenten Beispiel in den USA!
Außerdem ist das so ein typisches Tabu-Thema, da es ja die wenigsten "zugeben können" dass sie betroffen sind.
3 b: Von Phobie gegen Heterosexuelle habe ich auch noch nie gehört.
12.09.2018 13:17 Uhr 6
Rassismus, Sexismus, Homophobie. Diese Dinge sind strukturell. Das bedeutet, dass sie so oft vorkommen, dass die als Teil der Gesellschaft verstanden werden müssen. Diese Gesellschaft wird durch die Menschen geprägt, die in den Machtpositionen sind: vorwiegend weiße, heterosexuelle Männer. Diese Struktur kann sich nicht selbst diskriminieren, weshalb es keinen Rassismus gegen Weiße und keinen Sexismus gegen Männer gibt. Diese Strukturalität bedeutet aber nicht, dass jeder weiße, heterosexuelle Mann Sexist oder Rassist oder homophob ist - diese Deutung, die auch ihr hier vornehmt, ist stets nur ein Vorwurf aufgrund fehlender eigener Argumente.
Was es gibt, und das spreche ich niemandem ab, sind individuelle Diskriminierungserfahrungen. Natürlich kann ein Mann durch eine Frau, ein Weißer und eine PoC, ein Hetero durch einen Homo diskriminiert werden. Aber das sind IMMER individuelle Einzelfälle und kein Ausdruck struktureller, gesellschaftlicher Ungleichheiten.
Wer diese Dinge nicht verstehen will, der will es nicht oder der kann es nicht.
Edit: wir sprechen von Deutschland, nicht von Südafrika - und niemand von uns hat hier genug Ahnung, um sich erlauben zu können, zu den dortigen Zuständen eine Rassismusdefiniton zu formulieren. Nein, das in den USA ist kein Sexismus, sondern eine notwendige Säuberung der sexistischen, männlichen Struktur. Eine Säuberung, die diese Männer hätten vermeiden können, wenn sie sich an Recht und Gesetz und Anstand gehalten hätten.
12.09.2018 13:57 Uhr 7
2. Niemand schrieb, dass er dein Statement so aufgefasst hat, dass jeder Weiße ein Sexist, Rassist und homophob ist.
3. Ich zweifle die These an, dass ein weißer Hetero einen anderen weißen Hetero nicht diskriminieren kann! Es gibt weit mehr Gründe als Rasse oder sexuelle Orientierung aufgrund derer man diskriminiert werden kann.
4. Anderen Fehldeutungen aufgrund fehlender Argumente vorzuwerfen während man die eigenen Thesen auch nicht wirklich mit stichhaltigen Fakten oder Zahlen belegt ist letztlich auch nicht wirklich hilfreich.
12.09.2018 14:15 Uhr 8
Man muss Dinge nicht explizit schreiben, um sie kommunizieren. Genau das ist auch die Logik dahinter, dass man rassistisch handeln kann, ohne ein Rassist zu sein. Von "Sittenwächtern" und "political correctness" schwadronieren, beinhaltet nun, seinem Gegenüber eine Allgemeingültigkeit vorzuwerfen, die so nicht formuliert wurde.
Natürlich gibt es noch andere Dinge. Klassismus oder Ableismus zum Beispiel. Hier wird dann aber nicht wegen Hautfarbe - im übrigen spricht man im Deutschen nicht von Rasse - oder Gender oder Sexualität diskriminiert. Fakt ist: Ein Hetero kann einen Hetero nicht auf der Grundlage diskriminieren, dass er ein Hetero ist - sondern aufgrund eines anderen Merkmales. Spielt dieses Merkmal eine Rolle und ist die Diskriminierung strukturell, dann spricht man von den Begriffen, die wir hier diskutieren. Wenn nicht, dann nicht.
Manche Dinge kann man nicht mit Zahlen belegen, weil man sie nicht über Zahlen erfassen kann. Ich habe dort oben argumentativ erklärt, was der tatsächliche Forschungsstand zu diesem Thema ist - das nennt man in der Wissenschaft dann qualitativ statt quantitativ. Das sind die Fakten. Wer diese Fakten nicht akzeptiert, hat ein Problem. (Fakten nicht akzeptieren ist überhaupt das Problem der modernen Gesellschaft.)