Die Kritiker

«Aufbruch in die Freiheit»

von

Anna Schudt begeistert in diesem Drama als eine Hausfrau und Mutter, die im Jahr 1971 beschließt 'Mein Bauch gehört mir!', und so den gesellschaftlichen Unmut auf sich zieht.

Cast und Crew

  • Regie: Isabel Kleefeld
  • Darsteller: Anna Schudt, Alwara Höfels, Christian Erdmann, Marie Anne Fliegel, Lene Oderich, Carol Schuler, Dennis Schmidt, Ralph Kretschmar, Franziska Hartmann, Johanna Gastdorf
  • Drehbuch: Andrea Stoll, Heike Fink, Ruth Olshan
  • Kamera: Martin Langer
  • Schnitt: Renata Salazar Ivancan
  • Produktionsfirma: Relevant Film
Es ist das Jahr 1971. Der 'Stern' titelt bald "Wir haben abgetrieben!" und bringt so die gesellschaftliche Diskussion zum Thema Schwangerschaftsabbruch zum Überkochen. Auf dem religiös geprägten Land gibt es jedoch keine öffentliche Debatte. Das Urteil steht fest: So etwas wie einen Schwangerschaftsabbruch hat es nicht zu geben, wie Erika Gerlach schmerzlich feststellen muss. Als ihr Arzt mitteilt, dass sie ein viertes Kind erwartet und sie behutsam nachfragt, was man da tun könnte, blockt dieser sofort. Nur eine Patientengehilfin schenkt der erschöpften Frau Gehör und gibt ihr einen Tipp, wo man sich ihrer annehmen wird. Da ihr Mann nichts von einer Abtreibung wissen will, macht sie sich allein auf den Weg zum Arzt, der illegal und heimlich Schwangerschaftsabbrüche vornimmt …

«Aufbruch in die Freiheit» nimmt, eingefangen in vergilbten 70er-Jahre-Impressionen des Kameramanns Martin Langer, zwar das Sujet Abtreibung in den Fokus, behandelt jedoch nicht ausschließlich dieses Das Drama nimmt Schwangerschaftsabbrüche, auf die 1971 noch fünf Jahre Gefängnis standen, als thematisches Sprungbrett, um Frauenrechte generell zu behandeln. Es geht darum, wie elendig Frauen in den frühen 70ern behandelt wurden – so vergleicht Erikas Schwester, die Kölner Journalistin Charlotte, Ehefrauen in der bürgerlichen Mitte mit Hündchen, die ihrem Herrchen zu gehorchen haben.

Zudem zeigt «Aufbruch in die Freiheit», wie sich die Frauenbewegung langsam hoch gekämpft hat – und zwischen den Zeilen geht es auch um die Frage, wie weit wir als Gesellschaft seither eigentlich gekommen sind. Schließlich ist ein Schwangerschaftsabbruch auch im Jahr 2018 rechtlich noch immer eine erschreckend komplizierte Angelegenheit – von anderen Fragen des Frauenrechts und der Gleichberechtigung ganz zu schweigen.

Das Drehbuch von Andrea Stoll, Heike Fink und Ruth Olshan macht die gesellschaftliche Unwucht, die sich auf Frauen entladen hat (und weiterhin entlädt) durch die beiläufige Verwendung unzähliger Mikroaggressionen spürbar. Als Erika weinend, erschöpft und blutend am Straßenrand sitzt, kommt ein Taxi-Fahrer auf sie zu: "Mädchen, hast du Unsinn gemacht?!""Das ist ein Tag zum Söhnezeugen", wird Erika später an einem sonnig-warmen Tag begrüßt. Dann will ihr Mann Kurt der gemeinsamen, 15-jährigen Tochter Ulrike den Wechsel auf's Gymnasium verbieten, weil das ja bedeuten würde, dass sie mit zwei Jungs aus dem Dorf stundenlang allein im Bus sitzt.

Anders gesagt: Weil sich zwei Jungs eventuell schlecht aufführen könnten, wird ganz prophylaktisch dem Mädchen die bessere Bildung verweigert. Sofern es keine billige Ausrede Kurts ist, das als Grund zu nennen. Denn er ist zudem von der Überzeugung: Ulrike könnte eh nichts mit dem Abitur anfangen. "Was soll denn aus der werden", fragt er seine Frau wütend. "So etwas wie deine Schwester in Köln?" Igitt, noch eine Frau im Journalismus, wo sollen wir da nur hinkommen ..?! Das allein sollte schon genügen, um das Blut des TV-Publikums zum Brodeln zu bringen. Jedoch ist das noch längst nicht alles, denn Erikas Spießrutenlauf geht noch weiter, wie die Autorinnen aufzeigen – und dabei auch Erinnerungen an aktuelle Debatten über die Formulierungen in einigen Miet- und Bankverträgen wecken. Denn Erika darf ohne Einwilligung ihres Gatten weder einen Miet-, noch einen Arbeitsvertrag unterschreiben, geschweige denn die Kinder in der Schule anmelden …

Isabel Kleefeld inszeniert dies nicht primär als am Thema aufgezogenen "Problemfilm", sondern als feingliedriges Charakterdrama über eine Frau, die nach einem Leben in starren, ländlich-bürgerlichen Verhältnissen mit einem Schlag vorgeführt bekommt, wie sehr die Karten zu ihrem Ungunsten verteilt wurden. Anna Schudt begeistert in der Rolle der entgeisterten, ermüdeten und allem zum Trotz noch immer unentwegt ans Wohl Anderer denkenden Frau, und macht so die Konsequenzen, die ein auf die Interessen des Mannes ausgerichtetes Familienrecht auf einzelne Frauen hat. Alwara Höfels gibt als aufgeklärte Charlotte ebenfalls eine gute, nuancierte Performance ab und Christian Erdmann ist in der Rolle eines arroganten, selbstsüchtigen Mannes seiner Zeit ein Ekel, das man so schnell nicht vergisst.

Fazit: Ein Historiendrama, das wütend macht, indem es feingliedrig das Leid einer Frau zeichnet, die im Jahr 1971 versucht, für ihre Interessen einzustehen: «Aufbruch in die Freiheit» ist eine gut gespielte, aussagekräftige Auseinandersetzung mit den noch immer ungleichen gesellschaftlichen Machtstrukturen in Sachen Geschlechterbeziehungen.

«Aufbruch in die Freiheit» ist am 29. Oktober 2018 ab 20.15 Uhr im ZDF zu sehen.

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