Filmfacts: «Sibel»
- Regie: Guillaume Giovanetti, Çağla Zencirci
- Drehbuch: Ramata Sy, Guillaume Giovanetti, Çağla Zencirci
- Produktion: Marie Legrand, Rani Massalha, Michael Eckelt, Johannes Jancke, Marsel Kalvo, Nefes Polat, Christel Henon, Lilian Eche
- Darsteller: Damla Sönmenz, Emin Gürsoy, Erkan Kolçak Köstendil, Elit İşcan, Meral Çetinkaya
- Kamera: Eric Devin
- Schnitt: Véronique Lange
- Musik: Bassel Hallak, Pi
- Laufzeit: 95 Min
- FSK: ab 12 Jahren
2003 erwarb das Paar ein 2.000-seitiges Buch namens "Sprachen der Menschheit", das bloß in einer Nebenbemerkung auf ein Dorf im Nordwesten der Türkei eingeht, in dem sich einige Einwohnerinnen und Einwohner weiterhin mit einer anderweitig ausgestorbenen Pfeifsprache verständigen. 2004 besuchten Zencirci und Giovanetti dieses Dorf, aus einer "fast ethnolographischen Neugier heraus", wie sie sagen. Während ihres Besuches lernten sie eine junge Frau kennen, von der die Filmschaffenden den Eindruck hatten, dass sie stumm sei und daher ausschließlich in dieser Pfeifsprache kommunizieren kann, während der Rest des Dorfes neben der Pfeifsprache auch Türkisch beherrscht. Eines Tages verschwand die junge Frau in die anliegende Wildnis – was Zencirci und Giovanetti dazu gebracht hat, sich ihre Geschichte auszumalen:
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Obwohl die Genese von «Sibel» der von «Noor» und «Ningen» ähnelt, ist dieser Film doch ein Novum für Zencirci und Giovanetti: Zuvor arbeiteten sie ausschließlich mit Laiendarstellern zusammen; die Protagonisten ihrer Filme waren Menschen, die sie kennengelernt haben und die in einer filmischen Aufarbeitung ihrer Geschichte sich selbst spielen – ähnlich wie in Chloé Zhaos «The Rider». In «Sibel» dagegen setzen Zencirci und Giovanetti erstmals auf eine Mischung aus Laien sowie professionellen Schauspielerinnen und Schauspielern. Und das ist dem Film – im bestmöglichen Sinne – anzumerken: Dieses Drama ist durchzogen von der naturalistischen, unforcierten Aura, die gelungene Filme mit Laiendarstellern ausmacht. Zencirci und Giovanetti umgeben ihre Titelheldin mit einem sehr authentischen Umfeld, das völlig ohne Affekt agiert, weswegen viele Szenen in «Sibel» eine nahezu dokumentarische Wirkung aufweisen.
Gleichwohl haben emotionale Wendepunkte in dieser Geschichte eine mimische Schärfe und Prägnanz, wie sie mit Laien nur schwer zu erreichen ist, weshalb es sich bezahlt macht, dass Zencirci und Giovanetti von ihrer üblichen Vorgehensweise abgerückt sind. Der türkische Film- und Serienstar Damla Sönmez gibt Sibel eine subtile Wucht und Feurigkeit mit, die den Film behutsam, dennoch nachdrücklich prägt. Wenn die Einzelgängerin beispielsweise nach einem Streit mit ihrem Vater davon stürmt, glühen ihre Augen förmlich, und trotzdem bleibt Sönmez in ihrem Spiel zurückhaltend, lässt weiterhin spüren, dass sich Sibel aus unzähligen Gründen nicht zu sehr aufbauschen möchte oder gar kann.
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So skizzieren die Autoren Cagla Zencirci, Guillaume Giovanetti und Ramata Sy Sibels anfangs einzige Bezugsperson, ihren Vater Emin (Emin Gürsoy), sehr feingliedrig und mit vielen, kleinen Widerhaken, die aus ihm eine sehr spannende, da lebensnah ausgearbeitete Figur machen. Ihn macht eine Art intuitive Aufgeschlossenheit aus: Entgegen der gesellschaftlichen Norm hat er sich nach dem Tod seiner Frau keine Mühen gemacht, eine neue Gattin zu finden und weitere Kinder in die Welt zu setzen. Stattdessen sorgt sich der Gemischtwarenladenbesitzer und Bürgermeister um seine bestehende Familie und stärkt seiner ältesten Tochter den Rücken. Er gibt Sibel Halt in einer sie verachtenden Welt und gestattet ihr ein weitestgehend selbstbestimmtes Leben – so ist er es dann auch, der Besucher bedient, statt diese Aufgabe gemäß der ihn umgebenden, ungeschriebenen Gesetze an Sibel abzutreten.
Und wenn er für sein Dasein als Alleinstehender von einer Dorfbewohnerin kritisiert wird, weil das für einen Mann seines Status und Alters unschicklich sei, verwendet er gewieft und eloquent die altmodische Denkweise seiner Gesprächspartnerin gegen sie. Gleichwohl schnauzt er seine Töchter beim gemeinsamen Fernsehabend kurz angebundene Anweisungen entgegen, will Sibels jüngere Schwester jung verheiraten und duldet von seiner Ältesten in dieser Angelegenheit auch nicht die leiseste Form der Kritik – genauso, wie er keinerlei Rücksicht auf sie nimmt, wenn er sie im Gespräch mit der Polizei in ihrer Anwesenheit als zurückgeblieben bezeichnet. Das tut er zwar, um sie aus Ärger raus zu halten, dessen ungeachtet ist ihm in diesem Moment keinerlei Reue oder Einfühlungsvermögen anzusehen.
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Denn selbst wenn die gehässigeren Gemeindemitglieder Sibel als sonderbare Laune der Natur und ewiges Kind betrachten mögen, so kann sie aus ihrer Sonderstellung Vorteile ziehen – sie darf sich beispielsweise burschikoser anziehen und ohne Kopftuch herumlaufen, ohne dafür weitere Missachtung auf sich zu ziehen. Und an eine Verheiratung würde niemand denken – was zwar die gefühlskalte Implikation mit sich bringt, sie habe keinen Wert, ihr aber eine Freiheit in der Lebensplanung einbringt, die andere Frauen im Dorf nicht genießen.
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Fazit: «Sibel» ist ein stark gespieltes, nuanciert erzähltes Drama über Emanzipation, Gegenwehr und die vielen komplexen, doppelschneidigen Eigenheiten, die einem das Leben entgegenwerfen kann. Großartig.
«Sibel» ist ab dem 27. Dezember 2018 in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.
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26.12.2018 22:59 Uhr 1