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«Leaving Neverland» - Skandaldoku oder Aufklärungsarbeit?

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Am 6. April 2019, zeigt ProSieben die gleichermaßen gepriesene wie umstrittene Dokumentation «Leaving Neverland». Wir haben sie bereits gesehen und versuchen uns an einer Einordnung.

Filmfacts: «Leaving Neverland»

  • Weltpremiere: 25. Januar 2019
  • Genre: Dokumentation
  • Laufzeit: 240 Min.
  • Kamera: Dan Reed
  • Musik: Chad Hobson
  • Produzenten: Dan Reed, Owen Phillips
  • Regie: Dan Reed
  • OT: Leaving Neverland (UK/USA 2019)
Vor einigen Wochen kündigte der Privatsender ProSieben an, sich die Rechte an der Anfang März bei HBO gezeigten Dokumentation «Leaving Neverland» gesichert zu haben. Der Münchener Kanal räumte einen prominenten Sendeplatz frei, statt den Film am Programmrand zu verstecken: Er sollte am 6. April, einem Samstag, zur Primetime laufen. Damit setzte ProSieben ein Zeichen, laufen auf diesem Slot dort doch normalerweise die ebenso herrlichen wie albernen Shows von Joko und Klaas – wenn sich nicht gerade Prominente oder "Prominente" in kuriosen Spielchen und Sportarten duellieren. «Leaving Neverland» ist gewissermaßen auch so etwas wie ein Duell – ein Duell der beiden (mutmaßlichen) Vergewaltigungsopfer Jimmy Safechuck sowie Wade Robson, aber nicht gegen Michael Jackson, sondern gegen das Schweigen. Denn «Leaving Neverland» ist keine Michael-Jackson-Doku, für die sie ausgerechnet von den Kritikern immer wieder gehalten wird, sondern ein Film darüber, wie sich körperlicher und emotionaler Kindesmissbrauch auswirken. Ob man den Aussagen der beiden (mutmaßlichen) Opfer Glauben schenken kann, dazu kommen wir weiter unten in diesem Text. Wichtig ist diese Fokusverschiebung dennoch: Hier geht es nicht um den (mutmaßlichen) Täter, was ihn angetrieben haben könnte und welche Alibis er hat. Es geht um die (mutmaßlichen) Opfer, ihr Befinden, ihr Leid und ihre Beweggründe, erst jetzt ihr Schweigen zu brechen. Die kulturelle Debatte wird denen zurückgegeben, die sich zuvor aus Scham verkrochen haben. Ein sehr guter, wichtiger Schritt.

Ein Kampf gegen von Jackson-Fans angetriebene Windmühlen


Wer den Sender ProSieben in den sozialen Netzwerken verfolgt, der bemerkt dort seit einiger Zeit einen Kampf gegen Windmühlen, in dem die Social-Media-Manager des Kanals bislang allerdings standhaft bleiben. Nicht jeder sieht in der Ausstrahlung von «Leaving Neverland» nämlich eine Bereicherung in der Debatte darum, ob der Pop-Megastar Michael Jackson tatsächlich ein pädophiler Triebtäter war. Immer wieder kommt es zu Beschimpfungen und nachdrücklichen Bitten, den Film nicht auszustrahlen. Schon die Weltpremiere auf dem Sundance Filmfestival im Januar 2019 machte vorab Schlagzeilen durch Boykott-Aufrufe und Demonstrationen vor dem Lichtspielhaus, in dem «Leaving Neverland» vorgeführt wurde. Eine Petition gegen die Ausstrahlung bei ProSieben zählt aktuell etwas mehr als 4000 Unterstützer. Vor allem Fanseiten rufen zur Unterzeichnung auf. Man kann die Beweggründe für eine solche Kampagne sogar ein Stück weit verstehen. Für Fans ist der Film so etwas wie ein Angriff auf die Persönlichkeitsrechte des Musikers, ihres Idols, der sich seit seinem Tod im Juni 2009 natürlich nicht mehr zu den Vorwürfen äußern kann. Auch Familienmitglieder des Jackson-Clans versuchen derweil verzweifelt, die Verbreitung der Doku zu verhindern. Bislang vergebens.

Wir nennen die Übertragung von «Leaving Neverland» im ersten Absatz zwar "gut" und "wichtig", setzen Worten wie Opfer und Täter aber trotzdem beständig ein "mutmaßlich" voran. Das hat nichts damit zu tun, dass wir die Aussagen der beiden Protagonisten anzweifeln. Stattdessen wollen wir es, wie es bei einer Dokumentation im besten Fall sein soll, jedem selbst überlassen, wie er zu den Schilderungen steht. Gleichzeitig haben ebendiese bei uns einen Eindruck hinterlassen. Und zumindest so weit wollen wir uns aus dem Fenster lehnen: Wer nach «Leaving Neverland» zu dem Schluss kommt, dass Jimmy Safechuck und Wade Robson hier die Wahrheit sagen, dessen Meinung lässt sich nach vier Stunden Erfahrungsbericht auf jeden Fall nachvollziehen und respektieren.

Ein Film über (mutmaßliche) Missbrauchsopfer - nicht über Michael Jackson


Der mit TV-Dokumentationen vertraute Regisseur Dan Reed, der sich 2014 schon einmal mit dem Thema Pädophilie auseinandersetzte und in «The Paedophile Hunter» die Arbeit eines Online-Pädophilenjägers beleuchtete, geht im Falle von «Leaving Neverland» mit großem inszenatorischem Fingerspitzengefühl vor. Er rückt von Anfang an Jimmy Safechuck und Wade Robson in den Mittelpunkt, schildert ihr Coming-of-Age, porträtiert die familiären Umstände ihres Aufwachsens und lässt sie dabei selbst immer wieder zu Wort kommen. Nach der HBO-Ausstrahlung der Doku wurde von Kritikern mokiert, dass die Interviewpassagen mit Safechuck und Robson nicht am Stück, sondern über mehrere Tage verteilt aufgenommen wurden, was einen falschen Eindruck vermitteln und damit eventuell an der Glaubwürdigkeit der beiden Männer kratzen würde. Tatsächlich wird so etwas im Film nie behauptet. Und wäre es so, so würde es sogar noch weitaus mehr an der Glaubwürdigkeit kratzen. Im Laufe der vier Filmstunden schildern die beiden Hauptcharaktere derart intime Vorfälle und emotionale Ausnahmesituationen, dass es absolut nachvollziehbar ist, dass die Gespräche darüber an verschiedenen Tagen aufgenommen wurden. Anders wäre es wohl kaum möglich gewesen, in derartiger Offenheit über die traumatischen Ereignisse zu sprechen.

In der Anfangsphase von «Leaving Neverland» - und das bedeutet bei einer vierstündigen Dokumentation schon mal ein Viertel der Zeit - spielt Michael Jackson noch gar keine große Rolle. Im Schuljungenalter treffen Jimmy und Wade auf den 'King of Pop'. Jimmy ist zu diesem Zeitpunkt 10 Jahre alt, als er gemeinsam mit ihm in einem Werbespot zu sehen ist, Wade dagegen lernt Jackson bereits im Alter von fünf Jahren bei einem Tanzwettbewerb in Australien kennen. Es sind die wohl skurrilsten Bilder von «Leaving Neverland», allesamt belegt mit Foto- und Audiomaterial: Michael Jackson im privaten Wohnzimmer der Familien Safechuck und Robsen, Michael Jackson am Telefon in stundenlangen Gesprächen mit den Jungen, Zeichnungen, Briefe - wann immer Dan Reed die Möglichkeit hat, Beweismaterial für die (dato freundschaftliche) Beziehung des Musikers zu den Jungen zu zeigen, tut er dies auch. Dass sich diese Requisiten ebenso gut fälschen lassen, ist eines der häufigsten Argumente der «Leaving Neverland»-Gegner. Doch unter diesem Gesichtspunkt lässt sich letztendlich jede Dokumentation anzweifeln und auseinander nehmen.



Mit fortschreitender Dauer rücken die Erlebnisse des (mutmaßlichen) Missbrauchs immer mehr in den Mittelpunkt der Erzählung. Safechucks und Robsons Schilderungen sind detailliert, dadurch schmerzhaft und nicht zuletzt glaubwürdig. Beide gehen tief ins Detail (vor der Ausstrahlung bei HBO warnten Texttafeln vor expliziten Schilderungen von sexuellem Kindesmissbrauch) und verknüpfen die sexuellen Handlungen mit den damaligen Umständen auf der Neverland-Ranch, die währenddessen häufig als Kulisse der Off-Kommentare dient. So gibt es Aussagen darüber, dass in so gut wie jedem Zimmer auf dem Anwesen ein Bett stand, auf dem Jackson mit seinen (mutmaßlichen) Opfern verkehren konnte. Jackson soll ein ausgeklügeltes System aus Überwachungsmechanismen besessen haben. Für eventuelle Nachfragen seitens der Eltern gab es penibel durchdachte Ausreden und Strategien (was nicht zuletzt die Eltern der Jungs bis heute an Selbstzweifeln und -Vorwürfen verzweifeln lässt). Es ist unangenehm, sich das anzusehen - erst recht, wenn zwischendurch immer wieder auch Bildmaterial öffentlicher Auftritte eingeblendet wird, die aufgrund der Schilderungen auf einmal ganz anders wirken, als bisher.

Widersprüche konkret benennen


Besonders spannend wird es in dem Moment, in dem Dan Reed auf Widersprüche eingeht; das muss er auch, denn dass Wade Robson bereits einmal unter Eid ausgesagt hatte, von Jackson nicht missbraucht worden zu sein, steht im krassen Gegensatz zu seinen Aussagen. Doch es ist nicht umsonst der in gewisser Weise 'spannendste' Teil von «Leaving Neverland», zu sehen, durch welche Umstände die beiden Männer den (mutmaßlichen) Missbrauch erst als solchen erkannten. Zumindest aus diesem Film geht entsprechend glaubwürdig hervor, weshalb die beiden Jungen sich voll und ganz auf den (mutmaßlichen) Täter einlassen konnten, ohne dabei das Gefühl zu haben, gerade so etwas wie ein Opfer zu sein. Das wird den «Leaving Neverland»-Skeptikern nicht reichen. Aktuell stürzen die sich nämlich auf einen groben Fehler innerhalb des geschilderten Zeitablaufs. Angeblich soll es eines der im Film genannten Gebäude zum Zeitpunkt des (mutmaßlichen) Missbrauchs noch gar nicht gegeben haben. Sogar der Regisseur selbst äußerte sich bereits dazu. Er räumte Fehler ein, die den eigentlichen Aussagen der Protagonisten allerdings nicht widersprechen würden. Es ist abzusehen, dass es in den kommenden Wochen und Monaten noch weitere derartige Meldungen geben wird. Auf kaum einer Dokumentation ruhen derzeit so viele Augen wie auf «Leaving Neverland». Wir können uns nur in zweierlei Hinsicht wiederholen: Dass ProSieben sie auch in Deutschland der breiten Masse zugänglich macht, ist ein richtiger Schritt und, noch viel wichtiger: Bildet Euch selbst eine Meinung! Zumindest für uns gibt es zu diesem Zeitpunkt allerdings keinen Grund, die Aussagen von Jimmy Safechuck und Wade Robson anzuweifeln.

«ProSieben» zeigt «Leaving Neverland» am 6. April um 20:15 Uhr. Im Vorfeld wird es auf dem Sender thematisch zugehörige Berichterstattung geben.

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