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Interaktive Serie: «Du gegen die Wildnis» ist unfreiwilliges Entschleunigungs-TV

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Mit der Serie, in der Nutzer Bear Grylls durch gefährliche Missionen führen müssen, veröffentlichte Netflix die nächste interaktive Serie. Sie enttäuscht auf vielen Ebenen, doch überrascht auf anderen.

Viele Beobachter der Unterhaltungsindustrie witterten Ende des Jahres 2018 bereits die große Ära der Interaktivität. Dort erschien am 28. Dezember 2018 der interaktive Netflix-Film «Bandersnatch» als Teils des «Black Mirror»-Franchises. Zwar hatte der Streaming-Anbieter davor bereits gerade im Bereich der Kinderserien mit Interaktivität experimentiert, die die Netflix-App auf PCs und mobilen Endgeräten ermöglicht. Mit dem Thriller um einen jungen Programmierer, der im Jahr 1984 ein Computerspiel erschafft, bei dem dessen Zocker (wie die Zuschauer des Films auch) Entscheidungen treffen müssen, präsentierte das US-Unternehmen jedoch neue Möglichkeiten in der Streaming-Welt.

Lichtblick nach der «Bandersnatch»-Enttäuschung?


Der «Black Mirror»-Film enthielt zehn verschiedene Hauptenden, zu denen Nutzer über etliche Wege gelangen konnten. Dass Netflix in seinem Interaktivitäts-Vorstoß gleich so einen verworrenen Film veröffentlichte, der obendrein als Meta-Gag funktionierte, verschaffte dem Anbieter viel Aufmerksamkeit. «Bandersnatch» war in den Tagen nach der Premiere ein großes Thema in den Sozialen Medien – und dennoch fiel das Fazit vieler Nutzer ziemlich durchwachsen aus. Zwar wurde der Film handwerklich sehr gelobt, zu repetitiv war es aber nach Ansicht vieler Rezensenten, nach falschen Entscheidungen wieder in der Geschichte zurückgeschickt zu werden, während die Geschichte erzählerisch einfach nicht besonders einnehmend war und die verschiedenen Ausgänge in Sachen Qualität stark schwankten. Viele Nutzer zeigten sich schon nach kurzer Zeit gelangweilt vom Film, der den Großteil seiner Nutzer nicht wirklich dazu einlud, alle Enden durchzuspielen.

Womöglich haben die Kritiker von «Bandersnatch» deshalb nun mehr Vergnügen an «Du gegen die Wildnis». Am 10. April erschien die Survival-Serie beim US-Dienst und kennzeichnet damit die erste interaktive Netflix-Serie seit «Bandersnatch». Überlebens-Experte Bear Grylls, bekannt aus Doku-Formaten wie «Ausgesetzt in der Wildnis», ist Protagonist dieser Sendung, in der es den Briten wieder einmal in entlegene und naturbelassene Gegenden verschlägt, die allerlei Gefahren bereit halten. Statt nur auf seine eigene Expertise ist Grylls diesmal allerdings auch auf die Entscheidungen von Netflix-Abonnenten angewiesen, die stellvertretend für ihn Entscheidungen treffen müssen. Dabei geht es weniger um Leben und Tod als viel mehr darum, verschiedene Missionen zu erfüllen, für die der Abenteurer in die verschiedenen Regionen entsandt wurde.

Mal soll eine Missionsärztin, die Kinder gegen Malaria impfen soll, im Dschungel gerettet werden, an anderer Stelle soll Bear Grylls einen verschwundenen Rettungshund in den Schweizer Alpen wiederfinden oder ein abgestürztes Transportflugzeug finden. Die insgesamt acht Episoden sind in verschiedene Biotope unterteilt. Die ersten beiden Folgen spielen im Dschungel, die Folgen drei und vier in Eislandschaften, ehe es für zwei Folgen in die Wüste geht und schließlich zu Felsen und Schluchten. Trifft der Nutzer nur richtige Entscheidungen, sind die Episoden meist binnen 20 Minuten vorüber, eine Restlaufzeit wird Zuschauern hier aber nicht angezeigt.

«Du gegen die Wildnis» ist seichte Unterhaltung


Nachdem «Bandersnatch» wie Netflix‘ Versuch wirkte, bei seinen Abonnenten einen großen Hunger nach interaktiven Stoffen zu wecken, dies aber nicht gelang, kann man sich nun die Frage stellen, ob nun womöglich «Du gegen die Wildnis» dieses Potenzial besitzt. Die Frage muss mit einem klaren „nein“ beantwortet werden, denn weder kennzeichnet die neue Serie einen Meilenstein serieller Unterhaltung noch hat sie ansatzweise diese Ambition. Tatsächlich erinnert das Format eher an rein eskapistische Abenteuerromane für Kinder wie „Die Insel der 1000 Gefahren“. «Du gegen die Wildnis» stellt seichte Unterhaltung dar, die im Vergleich zu den anderen Bear-Grylls-Formaten zugleich auch einen geringeren Lernfaktor besitzt.

Zwar erklärt Grylls manches Mal, warum die gerade getroffene Entscheidung des Nutzers gut oder schlecht war, teilweise belaufen sich die Entscheidungen aber auch auf Belanglosigkeiten. Warum es nun besser sein soll, ob Grylls Termiten oder eine fette Made ist, deren beider Proteinreichtum er sowieso schon gegenüber dem Zuschauer beteuerte, erschließt sich ebenso wenig wie die Wahl, ob der Überlebenskünstler sich nun über eine Schlucht hangeln oder sich abseilen sollte. So entpuppt sich «Du gegen die Wildnis» schnell als gemütliches Sonntagnachmittag-Format für Freunde von Naturdokus, wobei die Aufnahmen gefährlicher Tiere teilweise aus Archivmaterial entspringen. Auch Kinder können die Serie bedenkenlos schauen, denn so richtig aufregend geht es nicht zu. So viel sei verraten: Bear Grylls kann in dieser Serie nicht sterben. Sieht es finster für ihn aus, holt ihn ein Helikopter aus der Situation heraus.

Ein großer Vorteil des Formats ist der stets sympathische und immer bis in die Haarspitzen motivierte Bear Grylls, der sich über die Jahre gerade in den Sozialen Medien zum Liebling vieler Nutzer entwickelt hat und seinen Job als abgeklärter sowie scham- und schmerzbefreiter Abenteurer gewohnt souverän erfüllt. Weil Grylls durch teilweise eigenwillige Überlebenspraktiken im Internet auch so manches Mal Zielscheibe von Späßen wurde, werden womöglich einige Nutzer darauf hoffen, in seinem Namen möglichst absurde Entscheidungen treffen zu können, um ihn ein weiteres Mal in unangenehme Lagen zu bringen. Davon bietet «Du gegen die Wildnis» zwar nicht viele Möglichkeiten, teilweise muss sich der Nutzer dennoch fragen, wie weit die Produktion ging, wenn er Grylls beispielsweise rohe Vogeleier essen lässt, die scheinbar später zu seinem tatsächlichen Erbrechen führen.

Interaktive Serien nehmen Zuschauer noch nicht ein


Im Gegensatz zu «Bandersnatch» spricht Bear Grylls jeweils direkt in die Kamera und mit dem Nutzer. Ein Problem des «Black Mirror»-Films bestand darin, dass nur wenige Zuschauer mit dem verschrobenen Protagonisten mitgefiebert haben als dass sie sich um sein Schicksal gekümmert hätten. Doch auch die direkte Ansprache in «Du gegen die Wildnis» hilft nicht wirklich beim großen Problem, das Netflix‘ interaktive Produktionen noch haben: Die Involviertheit der Zuschauer ist nicht groß genug, sodass die ständigen Entscheidungen vom Inhalt häufig eher ablenken. Dass Grylls ohnehin immer wie der Herr der Lage wirkt und keine wirkliche Gefahr im Verzug zu sein scheint, tut sein Übriges.

Das große Problem von «Du gegen die Wildnis» ist die Tatsache, dass es einen unversöhnlichen Mix aus Realität und Fiktion darstellt, sodass es letztlich keiner der beiden Kategorien zuzuordnen ist und etwas ganz anderes wird. Schließlich lässt allein die Tatsache, dass das Format Zuschauern erlaubt, aus der Ferne am Überlebenskampf von Bear Grylls teilzuhaben, alles automatisch ‚fake‘ wirken und der Nutzer achtet teilweise unwillkürlich auf das Artifizielle am Format. Deshalb funktioniert «Du gegen die Wildnis» auf der einen Seite als Spiel nicht wirklich, denn es ist weder schwierig noch überraschend. Gleichzeitig ist es auf der anderen Seite auch keine wirklich gute Serie, weil es Zuschauer ständig aus der Erzählung herausreißt, wenn Nutzer sich wieder die Frage stellen, wie viel nun wirklich echt und wie viel produziert ist.

Fazit: Das Netflix-Format ist nicht Fisch, nicht Fleisch und trotzdem kann diese hybridartige Produktion auch nicht als schlecht bezeichnet werden, weil grundlegende Mechanismen der Unterhaltung dennoch greifen. Aufgrund der schieren Einfachheit, der allenfalls moderaten Spannung und der Kurzweiligkeit des Formats spricht «Du gegen die Wildnis» mit Kindern und Jugendlichen womöglich eine Zielgruppe an, für die die Sendung vermeintlich gar nicht gedacht war und entpuppt sich statt als nervenaufreibendes Überlebensabenteuer eher als gemütliches Entschleunigungs-TV.

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