Schwerpunkt

«Eurovision Song Contest»: Da hilft nur noch hoffen

von   |  19 Kommentare

Es ist wieder Mai: Europa feiert sich musikalisch und das friedliche Musikfest gipfelt im Finale des «Eurovision Song Contest». Was wir von der 64. Ausgabe des Wettbewerbs in Tel Aviv zu erwarten haben, fasst Quotenmeter.de zusammen.

Samstag Abend gipfelt das größte Musikevent der Welt in seinem großen Finale: Der «Eurovision Song Contest» findet einen Sieger. Und dieser wird nicht Deutschland heißen, dafür hat der NDR wieder mit größter Sorgfalt alles gegeben. Deutschland schickt das Damenduo S!sters, bestehend aus Laura Kästel und Carlotta Truman, zum Finale des Musikwettbewerbs. Wenn also heute Abend unser deutsches Duo auf Startplatz 4 mit dem Song „Sister“ auf der Bühne steht, wird man ins Kissen statt in die Chips beißen wollen und die Bowlenschüssel auf Ex leeren. Denn: Man hat in diesem Jahr selten wie nie den Karren vor die Wand gefahren.

Es scheint, als gehöre die ewige Diskussion um den deutschen Vorentscheid als Grundzutat zum bundesgermanischen Meckergericht, das jährlich der deutschen Zuschauerschaft serviert wird. Was wird jedes Jahr geschimpft: Der Song ist zu lahm, der Vorentscheid bot kaum Spektakuläres, der Singer/Songwriter-Wettbewerb wird nicht widergespiegelt, die Auswahl ist ein Witz, es kommt beim Siegersong keinerlei Euphorie auf, das gewählte Lied passt absolut Null zum Wettbewerb. Katastrophentouristen würden sagen, dass der diesjährige Jahrgang all diese Komponenten vereint habe. 2019 ist ein Mekka für all die Kritiker. Und der NDR muss dringend am Vorentscheid arbeiten. Auch, wenn der deutsche Beitrag wider Erwarten doch über das letzte Drittel in der Punktetabelle hinaus erfolgreich wird.

2019 hat der NDR seinen Vorentscheid und den Umgang mit dem Sieger in den Folgewochen ad absurdum geführt. Als im November die sechs Kandidaten bekannt gegeben wurden, war von den S!sters noch keine Spur zu sehen. Nachdem die Komponisten des Songs – übrigens eine verworfene Nummer der Schweiz aus 2018 – ihn nachträglich dem NDR angeboten haben, befand man das Material für so überragend, dass man glatt die eigenen Regeln über Bord warf und einen siebten Act für den Vorentscheid nachnominiert hatte. Als dann auch noch gerade dieser Song das Voting gewann, hätte man erwarten können, dass der NDR umso erfreuter ist und ihn mit Fanfaren anpreisen wird – die Nachnominierung spricht nun deutlich dafür, dass man eigentlich an den Song und auch an die beiden Sängerinnen glaubt. Doch diese Denkweise war gänzlich falsch.

Nicht mal für ein Musikvideo pünktlich zur heißen Promo-Phase hat der Wettbewerbsgeist des NDR gereicht. Als offiziellen Videoclip für die «ESC»-Kanäle, der in den Wochen vor dem Wettbewerb in allen Herren Ländern angesehen wird, lieferte man einen Mitschnitt des Auftrittes beim Vorentscheid. Für den größten Geldgeber des Verbandes ein Armutszeugnis. Wieso man erst zwei Tage vor dem Finale ein Musikvideo zum Song veröffentlicht, entzieht sich jeder Logik. Promotion-Auftritte und Rotation im Radio für den Song waren dünn gesät und im Winde verflogen und so wundert es niemanden, dass unser Beitrag sich nicht mal in den deutschen Charts platzieren konnte. Peinlich. Wieso man hier nicht auf das bundesweite Sendernetz der hauseigenen Radios zugreift und den Song größtmöglich anschiebt, bleibt ungewiss. Man hat ja die Ressourcen, man muss sie nur nutzen.

Ein ganz anderes Problem ist der Umgang mit dem «Eurovision Song Contest» an sich beim NDR. Man hat ihn noch immer nicht verstanden. Es braucht kein Bootcamp mit Songwritern, die mit einem Algorithmus den perfekten Popsong zimmern. Es braucht eine Geschichte hinter dem Song, eine Geschichte hinter dem Interpreten. Die S!sters singen über Schwestern und Zusammenhalt unter den Frauen, obwohl sie sich erst seit ein paar Wochen kennen und natürlich mitnichten verwandt sind. Wer soll uns das denn glauben? Musikalisch bietet der Song genau das, was uns in all den Jahren des Scheiterns das Genick gebrochen hat: Ein Potpourri aus austauschbarer und dahinsiechender Langeweile, hochkonzentriert in drei Minuten zusammengerafft. Man lernt es einfach nicht.

Das Erfolgsgeheimnis von Michael Schulte im letzten Jahr lag in seiner Geschichte und das einschneidende Erlebnis in seinem Leben, das er in seinem Song „You Let Me Walk Alone“ verarbeitet hat. Das dreiminütige Stück über den frühen Tod seines Vaters hatte ist seiner puristischen Struktur und Verletzlichkeit einen eigenen Zauber, den auch Schulte selbst in Interviews und Auftritten vor dem Finale verkörperte. Das Gesamtpaket stimmte und wurde völlig zurecht mit Platz 4 belohnt. Als Lena 2010 gewann, war sie es, die mit ihrer unbekümmerten und frischen Art die Presse und Fans gleichermaßen um den Finger wickelte – der grandiose Ohrwurm „Satellite“ tat dann sein Übriges. Man fragt sich, wer in diesem Jahr sowohl Künstler als auch die Songs ausgewählt hat. Das im Vorentscheid präsentierte Material war dünn und eigentlich ist es kaum zu glauben, dass die sieben Songs im ausgestrahlten Wettbewerb tatsächlich die besten Kompositionen waren, die eingereicht wurden. Selbst aus dem übersichtlichen Pool an Songs am Abend des 22. Februars waren trotz der allgemein zu verzeichnenden Dürre mindestens zwei Songs dabei, die rein subjektiv besser gepasst hätten.

Mit Aly Ryan hatte man eine Dame im Rennen, die einen halbwegs schmissigen Ohrwurm mit hängenbleibenden Trompeten-Fanfaren im Refrain und bestrahlten Trickkleidern geliefert hätte. Zugegeben, Trickkleider beim «ESC» sind natürlich immer der Running Gag – allerdings passte dieses Stilmittel in Verbindung mit dem Songtitel „Wear Your Love“ vergleichsweise besser wie nie. Lily Among Clouds warf mit „Surprise“ eine für Deutschland gänzlich neue Art der Musik in den Topf der Wettbewerber und hätte die Nation zumindest weitaus interessanter vertreten als es die S!sters am heutigen Abend tun werden. Beide Beiträge wären für all die Zuschauer aufregender gewesen als das, was wir dieses Jahr auf der größten Musikbühne der Welt darbieten. Und beide hätten eine Geschichte zu erzählen gehabt, die nicht in irgendeinem Großraumbüro am Whiteboard zusammengezimmert worden ist. Aber, um es mit einem der größten Philosophen der Neuzeit zu sagen: Wäre, wäre, Fahrradkette. Ob die beiden Damen besser abgeschnitten hätten, werden wir nie erfahren.

Zu allem Überfluss hat man auch noch die Bühnenshow der beiden Damen zusammengestrichen. Hatte man beim Vorentscheid noch eine sich drehendes Podest, auf dem die beiden Akteurinnen sich während des Songs immer wieder entfernen und annähern, hat man auch dieses Stilmittel wieder gestrichen. So bleibt nur stehen und aufeinander zulaufen übrig. Es passiert nicht viel, man hat sich also mit der Bühnenperformance an den Song angepasst. Immerhin konsequent.

In den Wettquoten stand Deutschland kurz vor Beginn des ersten Halbfinals auf Platz 28 von 41 Startern – heute, nachdem das zweite Halbfinale vorüber war und auch die endgültige Startreihenfolge bekannt gegeben wurde, steht Deutschland nun auf dem letzten Platz der Buchmacher. Die Positionen sind wahrlich nicht in Stein gemeißelt, waren aber jedes Jahr ein verlässlicher Kompass dafür, wo die Reise schlussendlich hingeht. Und es wundert niemanden.

Nach einem beispiellosen Chaos bei der Findung des Austragungsortes in Israel – es wurde mehr bestätigt und wieder zurückgenommen als in der Brexit-Diskussion – hat man mit Tel Aviv nun eine Stadt gefunden, die den «Eurovision Song Contest» organisieren darf. Mit gut 24 Millionen Euro wurden die Kosten seitens der israelischen Regierung Mitte 2018 angekündigt, allerdings dürfte da noch die ein oder andere Million Euro hinzukommen. Zum Vergleich: 2011 kostete der «ESC» in Deutschland zwölf Millionen Euro den NDR, zehn Millionen Euro wurden von dem Ausrichter Düsseldorf bereitgestellt. Refinanzierung durch Ticketverkäufe und Sponsoren nicht eingerechnet. In diesem Jahr ist der Erlös durch Eintrittskarten nur noch ein Trinkgeld, da nur 7.200 Zuschauer in die Veranstaltungshalle in Tel Aviv passen. Eine ungefähr vergleichbare Arena in Deutschland wäre die ehemalige Bördelandhalle Magdeburg – um mal die Dimensionen einzuordnen, in denen sich die diesjährige Ausgabe bewegt. Natürlich sei erwähnt, dass Israel ein wesentlich kleineres Land ist. Dennoch hätte man das größte Musikereignis der Welt umfangreicher gestalten können.

Waren die letzten Ausgaben mit 20.000 bis 30.000 Zuschauern doch wesentlich pompöser und demnach auch stimmungstechnisch ein wahres Highlight. Somit ist der diesjährige Jahrgang die zuschauerschwächste Ausgabe seit 1999 – die übrigens ebenfalls in Israel stattfand, damals in Jerusalem. Alternativen in Haifa und eben Jerusalem mit doppelter oder gar dreifacher Kapazität haben den Zuschlag nicht erhalten. Natürlich heißt das nicht, dass in der vergleichsweisen kleinen Halle die Veranstaltung in Turnhallen-Atmosphäre verfällt. Angesichts der vielen Fans, die jährlich anreisen und der Schnelligkeit der Ticketverkäufe in den größten Hallen der letzten Jahre ist allerdings die Frage erlaubt, ob man nicht mehr Fans mit einem Ticket hätte ins Land locken können. Es ist 2019 alles kleiner gehalten, als wir es von den Vorjahren gewohnt sind.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Was ein Kanadier mit Madonna zu tun hat.

vorherige Seite « » nächste Seite

Kurz-URL: qmde.de/109411
Finde ich...
super
schade
75 %
25 %
Teile ich auf...
Kontakt
vorheriger ArtikelDie Coppola-schaunächster ArtikelMystery-Drama «The Society» kommt gut an
Es gibt 19 Kommentare zum Artikel
Blue7
18.05.2019 10:42 Uhr 1
Es war auch besser das dieser Song nie im Radio lief. Ihn möchte ja auch keiner hören und man muss sich halt die Frage stellen was ist schlimmer der Song oder die Mädels?

Diese blonde Göre wird uns den Auftritt vermasseln und das zu 100%.

Die Sisters haben das große Glück das dieses Jahr sehr viele Songs mies sind und somit Deutschland die Chance hat doch nicht den letzten Platz einnehmen zu können.

Mein Tipp 20+
Neo
18.05.2019 11:21 Uhr 2
Gibts denn offizielle Radiozahlen?

Die letzten Jahre waren allgemein eher Promoschwach. Aber bei S!sters fiel selbst der obligatorische Besuch in der NDR Talkshow weg. :?



Wenn ich mich auf YT so durchklicke, habe ich aber den Eindruck, dass die meisten den Song gar nicht so übel finden. Zumindest was die Leute im Ausland betrifft und auf die kommts ja bekanntlich an. Und die Message ist doch auch total ESC tauglich.
ZehnGrammZucker
18.05.2019 12:58 Uhr 3


Bitteschön: https://esc-kompakt.de/airplays-der-deutschen-vorentscheidtitel-2019-kaum-was-zu-hoeren/
Blue7
18.05.2019 13:02 Uhr 4
Das er beim Kinderradio TEDDY oft lief wundert mich nicht. Die Mädels sprechen ja die Zielgruppe Kinder unter 10 Jahre an
Neo
18.05.2019 13:09 Uhr 5

Dankeschön.



Ja gut. Definitiv weniger als Schulte. Den sah ich zumindest auch ständig in irgendwelchen Sendungen, wobei ich mir da gar nicht so sicher bin, ob das meiste auch erst nach dem ESC war.
Blue7
18.05.2019 13:12 Uhr 6
Ja das war erst nach dem Vorentscheidt. Aber dieser war auch im Musik TV-Sender-Bereich bei gotv (AT Musiksender), XITE, VIVA, Deluxe Music und ja sogar auf MTV damaliger Zeit zu sehen.

Sowie in diversen Sendungen. Von den 2 Mädels habe ich gott sei dank nichts mitbekommen. Verhalten wie 6 jährige.
P-Joker
18.05.2019 13:58 Uhr 7
Ich halte von dem Song schon seit Anfang an nicht viel!

Wo ist da das Neue? Wo ist das Frische? Wo ist das Aha-Erlebnis?

Das hört sich leider nur so an, als würden bei Karaoke zwei Mädchen einen Song von Ed Sheeran singen

(ich kenne das aus Erfahrung :-) ).

Genau dessen Musikstil ist das nämlich! Nur eben schlecht umgesetzt!
tommy.sträubchen
18.05.2019 14:20 Uhr 8
Hab bis vor 2/3 Wochen nichts von Sisters gehört...das Lied ist nicht mein Geschmack. Keine Ecken keine Kanten alles brav naja und eben uninteressant. Der vorletzte Platz sollte drin sein. Natürlich gönne ich den Erfolg aber Deutschland wird wohl nach einem guten Jahr ...ersteinmal wieder 3/4 Jahre zero points hören um zu kapieren...: diese Mainstream Songs kommen sehr selten an...eins von beiden muss raus stechen...entweder die Gruppe oder der Song am besten beides.
anna.groß
18.05.2019 15:30 Uhr 9
Bringt auch nicht viel, den Song im D zu promoten, da man eh nicht fürs eigene Land abstimmen darf, also Thema verfehlt ...

Die Stimmung gegen den Song hat sich zumindest bei YT längst ins Positive gedreht und nach paarmaligem Hören finde ich ihn gar nicht soooo schlecht, hat schon ne gewisse ESC-Dramatik durch die Streicher und immerhin ist es kein Lovesong ;)
Sentinel2003
18.05.2019 16:40 Uhr 10
Tja, da schwimme ICH dann wie immer absolut gegen den Strom!!! Mir gefällen die 2 mit ihrem Song! Das da schon seit Tagen drüber gesprochen wird, dass die Mädels so gut wie null Chance haben, finde ich schon sehr heftig!!

Optionen

Drucken Merken Leserbrief



Heute für Sie im Dienst: Veit-Luca Roth Fabian Riedner

E-Mail:

Quotenletter   Mo-Fr, 10 Uhr

Abendausgabe   Mo-Fr, 16 Uhr

Datenschutz-Info

Letzte Meldungen

Werbung

Mehr aus diesem Ressort


Jobs » Vollzeit, Teilzeit, Praktika


Surftipp


Surftipps


Werbung