Die Kino-Kritiker

Drei Geschwister, drei Geschichten, ein Film: «All My Loving»

von   |  1 Kommentar

Im Episodendrama «All My Loving» veranschaulicht Regisseur Edward Berger ganz normale Probleme des Alltags anhand von drei Menschen, die alle ihr eigenes Päckchen zu tragen haben.

Filmfacts: «All My Loving»

  • Start: 23. Mai 2019
  • Genre: Drama/Episodenfilm
  • Laufzeit: 116 Min.
  • FSK: 12
  • Kamera: Jens Harant
  • Buch: Nele Mueller-Stöfen, Edward Berger
  • Regie: Edward Berger
  • Darsteller: Lars Eidinger, Nele Mueller-Stöfen, Hans Löw, Christine Schorn, Manfred Zapatka, Godehard Giese
  • OT: All My Loving (DE 2019)
Der deutsche Regisseur Edward Berger hat hierzulande keinen solch großen Namen wie ein Til Schweiger oder Matthias Schweighöfer, dafür ist er gerade im Ausland ein angesehener Filmemacher. So angesehen, dass sein nächstes Projekt «Rio» mit Namen wie Benedict Cumberbatch, Jake Gyllenhaal und Michelle Williams werben können wird; und nach Bergers Inszenierung der Miniserie «Patrick Melrose» ist das auch kein Wunder. Ganz nebenbei gehören zu seinem Repertoire dann aber auch wieder so urdeutsche Produktionen wie der «Tatort», «Schimanski» und «Polizeiruf 110» – aktuell ist der gebürtige Wolfsburger sowas wie eine Wundertüte. Und aus der dürfen wir jetzt das Episodendrama «All My Loving» hervorziehen; drei Geschichten über drei Geschwister, die alle ihr ganz persönliches Päckchen zu tragen haben und die der auch für das Drehbuch mitverantwortliche Berger so treffsicher beobachtet, dass es ganz einfach falsch wäre, «All My Loving» als einen Film zu beschreiben, bei dem auf der Leinwand nichts passiert, obwohl das eigentlich zutreffend wäre.

Der Film wirkt nicht inszeniert, hochstilisiert, überdramatisiert – es ist, als hätte Jemand einfach eine Kamera aufgestellt und im Anbetracht drei ganz normaler Persönlichkeiten einfach geschaut, was passiert. Ein faszinierender Ansatz, um Alltag so zu zeigen, wie er ist.

Aus dem Leben von drei Geschwistern


Stefan (Lars Eidinger) ist Pilot, hat eine große Wohnung, ein schnelles Auto und viele Geliebte. Doch als er sein Gehör verliert und nicht mehr arbeiten kann, klammert er sich an sein altes Leben: Also zieht sich Stefan die Pilotenuniform an und reißt in Hotelbars Frauen auf. Julia (Nele Mueller-Stöfen) und ihr Mann Christian (Godehard Giese) verbringen ein langes Wochenende in Turin. Als das Paar einen verletzten Straßenhund findet, kümmert sich Julia nur noch um seine Genesung. Bei einem Abendessen mit Freunden kommt es zum Eklat. Tobias (Hans Löw) schmeißt den Haushalt und versorgt die drei Kinder, während Maren (Christine Schorn) für den Unterhalt der Familie sorgt. Das wurmt ihn, so dass die Kinder immer wieder als Ausrede für sein stagnierendes Studium herhalten. Dann erkrankt sein Vater, und Tobias stellt fest, dass das Leben für seine Eltern so nicht weitergehen kann.

Normalerweise erzählt ein Episodenfilm seine Geschichten ineinander verflochten; wir sehen einen Ausschnitt aus der einen Story, dann aus der nächsten und irgendwann sind wir wieder bei der ersten angekommen, eh es mit der nächsten weiter geht und so weiter und so fort. Edward Berger und seine Co-Autorin Nele Mueller-Stöfen (schrieben auch schon Bergers „Jack“ zusammen) wählen für ihr Werk einen leicht abgeänderten Ansatz. Anstatt ihre Geschichten immer wieder abwechselnd aufzugreifen, erzählen sie erst von Stefan, dann von Julia und ihrem Mann und schließlich von Tobias. Der Film ist also in drei Abschnitt unterteilt, jeder von ihnen wird mit einer Überschrift eingeleitet: „Das wird schon wieder“, „Inglaterra, ein Traum“ und „Alles was er anfasst“.

Umklammernd sehen wir zu Beginn von «All My Loving» eine Szene in einem Restaurant, in der sich die drei Geschwister kurz über scheinbare Belanglosigkeiten austauschen, die alle früher oder später im Film wieder aufgegriffen werden. Zum Abschluss fungiert eine weitere Gemeinsame Szene („3400 Gramm“) als Epilog. Diese Struktur birgt Chancen und Risiken zugleich. Unterliegen die einzelnen Abschnitte qualitativer Schwankungen, ist es gut möglich, dass man zeitweise das Interesse verliert. Gleichzeitig ist es eine Herausforderung, innerhalb eines Episodenfilms einen passenden Rhythmus aufzubauen, wenn man von der einen Geschichte zur anderen schneidet. Wie gut, dass die Kapitel von «All My Loving» allesamt von derselben starken Qualität sind, denn in den hier von Berger dargebotenen Schicksalen steckt zu gleichen Anteilen niederschmetternde Komik wie heitere Tragik – ja, genau in dieser Kombination.

Die Faszination des Alltags


Jede Geschichte in «All My Loving» lebt zu gleichen Teilen von den dramatischen Umständen, die diese überhaupt erst erzählenswert machen und der darin immer wieder nuanciert zum Vorschein tretenden Situationskomik, die schlussendlich nur ein Urteil zulassen: So, wie Edward Berger hier das ganz normale Leben nachzeichnet, ist es auch – und das kann man als Kinozuschauer entweder abschreckend langweilig oder eben ganz besonders faszinierend finden. Da wäre zum Beispiel der durch den schleichenden Verlust seines Gehörs vom Flugdienst abkommandierte Pilot Stefan, der aus purer Verzweiflung heraus regelmäßig seine Uniform anzieht und dabei auch noch jede Menge Frauen aufreißt. Was wie ein Klischee klingt, wird in den Händen von Edward Berger zur herzergreifenden Studie über die Angst vorm sozialen Abstieg und mehr noch zu einem launigen Porträt über menschliches (oder männliches?) Ego.

Damit der Zuschauer auch bloß jede einzelne widersprüchliche Regung in Stefans Gesicht mitbekommt, geht Kameramann Jens Harant («Das schweigende Klassenzimmer») immer ganz nah dran an seine Schauspieler. Und so bleibt einem nicht verborgen, dass dieser Stefan eben kein gerissener Verführer ist, sondern vor allem eines: unsicher. Gerade in den Auseinandersetzungen mit seiner jugendlichen Tochter Vicky (Matilda Berger) kommt das besonders zum Vorschein, denn hier kann er nicht einfach seine Uniform anziehen, um sich von ihr Respekt zu erschleichen.

Die erste Episode ist zugleich auch die ambivalenteste, wenn nicht unbedingt beste – welche das ist, lässt sich nur schwer ausmachen; sie alle besitzen auf ihre Weise einen ganz besonderen Reiz. Der von jetzt auf gleich von einem Straßenhund bestimmte Urlaub von Stefans Schwester Julia und ihrem Mann gewinnt gen Ende hin eine besonders traurige Note, wenn sich der Grund für Julias aufopferungsbereites Kümmern um den zerzausten Vierbeiner als Folge eines schweren Schicksalsschlags entpuppt. Und die Geschichte rund um Tobias hat ihren Höhepunkt in der Mitte, als sich der vom nahenden Tod seines Vaters niedergeschlagene junge Mann ausgerechnet im Kreise eines Teenagergeburtstags gehen lassen kann. In «All My Loving» geht es nicht um die ganz großen Dramen; in jeder Geschichte ist es ein ruhiger Dialog oder eine kleine Geste, die den Gemütszustand der Figuren so perfekt beschreibt, dass alles drum herum letztlich wie Beiwerk wirkt.

Edward Berger liebt seine Figuren, denen Lars Eidinger («25 km/h»), Nele Mueller-Stöfen («Familienfest»), Godehard Giese («A Cure for Wellness») und Hans Löw («Axolotl Overkill») Leben einhauchen. Ihr Spiel wirkt intuitiv, nahezu improvisiert, während sie von den stark geschriebenen Dialogen profitieren, in denen endlich mal wieder so gesprochen wird, wie Menschen tatsächlich miteinander sprechen. Es ist bemerkenswert, dass das im deutschen Kino bis heute nicht selbstverständlich ist.

Fazit


Auf den ersten Blick ist «All My Loving» nur die Nachstellung von Alltag. Auf den zweiten hebt Regisseur Edward Berger allerdings das Besondere daran hervor und erweist sich dabei als herausragender Beobachter emotionaler Ausnahmezustände.

«All My Loving» ist ab sofort in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

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Es gibt 1 Kommentar zum Artikel
Neo
23.05.2019 12:00 Uhr 1
"Normalerweise erzählt ein Episodenfilm seine Geschichten ineinander verflochten; wir sehen einen Ausschnitt aus der einen Story, dann aus der nächsten und irgendwann sind wir wieder bei der ersten angekommen, eh es mit der nächsten weiter geht und so weiter und so fort."



Ist das so? Ich hätte ja gesagt, dass ein Episodenfilm eher zwingend die Episoden auserzählt und zu Beginn und am Ende die Stränge zusammenführt, wenn überhaupt. Eigentlich reicht doch nur ein Überbegriff, zu dem einzelne Geschichten erzählt werden.

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