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Als die Freizeitkriminalität der Harlemer Halbstarken überhandnimmt, greift die Polizei ein und verhaftet unter teils exzessiver Gewaltanwendung alle, die sie kriegen kann. Erst am nächsten Morgen stellt sich heraus, dass etwa zur selben Zeit eine 28-jährige (weiße) Joggerin im Park so brutal vergewaltigt und misshandelt wurde, dass sie jetzt im Koma liegt. Staatsanwältin Linda Fairstein (Felicity Huffman) ist überzeugt, dass ein paar der inhaftierten Straßenrowdys vom Vorabend damit zu tun haben.
Die Polizei legt harte Bandagen an, und nach einigen fehlgeleiteten Good-Cop-Bad-Cop-Spielchen, systematischen Bedrängungen und Übergriffigkeiten legen die später als Central Park Five bekannten Jugendlichen ausgedachte Geständnisse ab oder beschuldigen sich gegenseitig. Für Verurteilungen wird es reichen. Sie werden viele Jahre in New Yorker Gefängnissen zubringen, bevor lange später der wahre Täter gestehen wird. «When They See Us» ist die Geschichte eines kolossalen Justizirrtums.
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Gleichzeitig funktioniert diese Serie jedoch nicht nur als Zeitstück, sondern vielmehr als einnehmendes Justizdrama, das sich seinen Figuren mit großer Offenheit nähert. Der Umstand, dass den Central Park Five am Schluss die verdiente Genugtuung zuteilwird, von den falschen Anschuldigungen freigesprochen zu werden und obendrein eine adäquate Entschädigung zu erhalten, bedeutet nicht, dass sie durchgehend als aufrichtige Charaktere geführt werden – schließlich sind sie in anderen Belangen nicht frei von Schuld.
Den Ermittlerfiguren nähert sich diese Serie mit ähnlicher Differenzierung. Staatsanwältin Fairstein wirkt in ihren Tat- und Täterbeschreibungen wie selbstverständlich getrieben von ethischen Zuordnungen und überschreitet dabei – wenn auch ohne offensichtlichen bösen Willen – mehr als einmal die Grenze ins Unsagbare. Gleichzeitig verfolgt sie in aufrichtiger Weise ein erstrebenswertes Ziel: den wahren Täter dingfest zu machen.
Ein ebenso waches Auge wirft Showrunnerin Ava DuVernay auf die New Yorker Polizei, die in Teilen völlig dem Corpsgeist verfallen ist, und die vereinzelten Stimmen innerhalb der Organisation, die diesen Umstand aufbrechen wollen. Weder die Täter- noch die Opferfiguren sind vollends ohne Makel oder ihre ehrlichen, aufrichtigen Seiten. Am Schluss stellt «When They See Us» nicht so sehr die (historische) Frage, bei wem genau die Schuld für den Justizskandal liegt, sondern weist vielmehr mit großem erzählerischen Geschick auf die gesellschaftlichen Mechanismen hin, die ihn überhaupt ermöglicht haben – und die sind im Amerika von Black Lives Matter so aktuell wie vor dreißig Jahren.
«When They See Us» ist bei Netflix verfügbar.
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