RTL II versucht sich an seiner zweiten Schul-Soap am Nachmittag und lässt dabei storytechnisch keine Klischees aus. «Krass Abschlussklasse» erinnert vom Titel her stark an ein Format, das ab 2003 bei ProSieben die Reality-Dokus befeuerte. Damals startete man als eigene Rubrik bei «Arabella» und entwickelte sich zum selbstständigen Format, das vier Jahre lang den ProSieben-Nachmittag prägte. Nun greift RTL II nach dem ganz großen Wurf und programmiert die neue Soap vor das Mutterformat «Krass Schule – die jungen Lehrer», das täglich um 17.00 Uhr läuft.
Bei den beiden Titeln sei die Frage erlaubt, ob man in der Redaktion in alter «Glücksrad»-Manier kein Geld mehr für einen weiteren Vokal hatte – für den halbwegs sicheren Grammatik-Freund fehlt in beiden Titeln ein E, um einen einigermaßen korrekten Wortgebrauch auf die Reihe zu bekommen.
Sei’s drum, holprige Serientitel sind wir Deutschen ja gewohnt. So ist es umso interessanter, wie RTL II die neue Schul-Soap bewirbt. Auf der Internetseite des Senders heißt es: „Aufruhr in der Abschlussklasse: Der geheimnisvolle neue Schüler Kian verdreht den Mädels den Kopf und bereitet den Lehrern als Bad Boy gehörig Kopfschmerzen. Schnell steht fest, dass Kian ein dunkles Geheimnis hütet, welches die Abschlussklasse in Aufregung versetzt. Was steckt hinter seinem merkwürdigem Verhalten? Die beiden Freunde Jonas und Nico fühlen dem Neuen auf den Zahn - und begleiten das aufregende letzte Schuljahr mit ihrem eigenen YouTube-Kanal.“
Die Idee, am Nachmittag eine Schul-Soap mit einem eigenen YouTube-Kanal zu begleiten, ist durchaus klug. Allerdings haben wir auch schon 2019. Es wirkt, als hinke man mit dieser Idee mindestens drei Jahre hinterher. Die YouTuber haben zwar immer noch Erfolg, dennoch ist das Thema in der breiten Öffentlichkeit über seinen Zenit hinaus. Vermutlich werden die Darsteller der Soap auch ihre eigenen Instagram-Accounts passend zur Serie pflegen, wie es auch viele der echten Soap-Kollegen tun. Mittlerweile gehört dies schon zur Job-Beschreibung eines Soap-Darstellers – was früher Fotoshootings für die BRAVO, Yam! & Co. waren, sind heute fotografische Eigendarstellung und Frage-Antwort-Runden bei Instagram. Kein Wunder also, dass die BRAVO in den letzten 20 Jahren über 90 Prozent ihrer Auflage verlor, ihren Veröffentlichungsrhythmus halbierte und mittlerweile nur noch alle 14 Tage erscheint.
Ob die Formulierung „Bad Boy“ im Jahr 2019 übrigens noch angemessen und nützlich erscheint, darüber lässt sich streiten. Es klingt nach Neunziger-Jugendzeitung-Sprech. Für die kurze Sendedauer versucht man alles, um Zuschauer vor den Karren zu spannen. Hier sei auch die Frage erlaubt, wie weit man in nur 15 Folgen gehen kann – höher wollte RTL II den ersten Testballon nicht steigen lassen. Die Machart dürfte es allerdings erlauben, ohne große Hürden vergleichsweise schnell Nachschub produzieren zu können, da man sowieso nebenher den sendungseigenen YouTube-Kanal mit Inhalten füttert.
Googelt man nach «Krass Abschlussklasse», landet man unweigerlich auf der RTL-II-Website des Formats. Und hier springt einem sofort etwas ins Auge: Unterhalb des Artikels werden unter dem Teaser „Das solltest du dir anschauen“ sechs Kacheln angepriesen. Die beiden untersten handeln ganz unschuldig von den «Pop-Giganten» und von «Columbus – Das Erlebnismagazin». Allerdings wirken die vier davor angeordneten Kacheln umso verstörender. Es sind jeweils zwei Artikel zu «Berlin – Tag & Nacht» und «Köln 50667», die mit Impressionen bebildert werden, die eigentlich ins Nachtprogramm gehören. Das fand auch RTL II und hat immerhin eines der Fotos verpixelt. Die Aufrufe erfolgten tagsüber. Zwei der werbewirksamen Bilder zeigen ein Pärchen in Action, eines in der Badewanne knutschend, beim vierten hockt eine Dame einfach nur so nackt in der Wanne und klatscht für irgendwas.
Nun gut, man könnte denken, dass das ein unglücklicher Zufall war. Aber weit gefehlt: bei weiteren fünf Aufrufen der Artikelseite zu «Krass Abschlussklasse» findet sich ein identisch aufgebautes Fußnotenbild. Vier freizügige Artikel oben, zwei unverfängliche untendrunter. Der Algorithmus der verwandten Formate zeigt wohl, wo die Reise des Formats hingeht. Das kann man konsequent nennen. Das kann man aber auch kritisieren. Sind die Formate aus Berlin und Köln am Vorabend angesiedelt, spielt die neue «Abschlussklasse» ihre Karten nachmittags um 16.05 Uhr aus. Ob man da fürs Image unbedingt mit kopulierenden, verpixelten Pärchen auf der sendereigenen Homepage in Verbindung gebracht werden will, darf bezweifelt werden.
Zu erwähnen sei noch, dass «Krass Abschlussklasse» von Tresor TV produziert wird. Also von jenem Studio, das einst zwischen 2003 und 2006 die «Abschlussklasse» für ProSieben umgesetzt hat. Von Comeback darf dennoch nicht gesprochen werden, da sich beide Formate in ihrer Machart gänzlich unterscheiden. Dennoch werden mit dem heutigen Start allein des Titels wegen Vergleiche angestellt werden.
Im Vergleich zu damals dürften die linearen Quoten gar nicht mal mehr das ausschlaggebende Merkmal für eine mögliche Fortsetzung sein. Die Online-Abrufe und vor allem die Zugriffszahlen des eigenen YouTube-Kanals dürften ebenso stark ins Gewicht fallen. Wie stark man die Zielgruppe in nur drei Wochen an sich binden kann, wird sich zeigen – 15 Folgen sind keine Menge, bei der man sich Fehler erlauben darf. Und so blicken wir auf drei Wochen Schulalltag, im Fernsehen und im Internet.
RTL II zeigt 15 Folgen von «Krass Abschlussklasse» ab 17. Juni 2019 immer montags bis freitags um 16.05 Uhr.
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