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«Tote Mädchen lügen nicht» Staffel 3: Von Hoffnung und Hoffnungslosigkeit

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«Tote Mädchen lügen nicht» bleibt sich mit seiner dritten Staffel einerseits treu und entwickelt sich dennoch auch spürbar weiter. In Evergreen County gibt es noch viel zu erzählen…

Häufig wird der aktuelle und sicherlich noch lange andauernde Serien-Hype damit erklärt, dass Menschen ihrem Alltag gelegentlich einfach entfliehen wollen. Die Welten, in die dann bevorzugt eingetaucht wird, sind entweder geprägt durch schöne Dinge, Humor und Helligkeit, voller Fantastischem und Übernatürlichem oder Action und Abenteuer. Seltener sind da schon diejenigen, in denen es düsterer zugeht, in denen gezeigt wird, wie ungerecht und grausam die Welt oder – besser gesagt – ihre Bewohner sein können. Manchmal geht es aber auch um eine Düsternis, die das Leben vieler Frauen und Männer bestimmt, und über die nur die wenigsten sprechen. In diesem Zusammenhang sollten etwa «Skins», «Misfits» oder «Clique» aus Großbritannien, «Baby» aus Italien, «The Girlfriend Experience» oder «Flesh and Bone» aus den USA «Élite» aus Spanien, «Xanadu» aus Frankreich, und ja, durchaus auch «Beat» aus Deutschland Erwähnung finden. All diese Formate eint, dass ihre Protagonisten überwiegend jung sind, in irgendeiner Form abstürzen, sich selbst verlieren, schlimme Erfahrungen machen und viele falsche Entscheidungen treffen, die große Auswirkungen haben. Ryan Murphy, der gefühlte Meister aller Genres, hat überdies über sechs Staffeln hinweg in «Nip/Tuck» den schönen Schein auf zum Teil regelrecht zerstörte Seelen treffen lassen und vor dem Hintergrund der plastischen Chirurgie philosophische Fragen verhandelt.

Eine Serie, die von vielen womöglich vorschnell in einem Atemzug mit den oben erwähnten Titeln genannt werden würde, ist «Tote Mädchen lügen nicht». Die Adaption des Buches von Jay Asher wurde – wie schon die Vorlage – von Beginn an sehr kontrovers diskutiert. Staffel 1 folgt – trotz einiger Änderungen – größtenteils der Handlung, die der Autor einst auf 288 Seiten ausgebreitet hatte: Die High-School-Schülerin Hannah Baker (Katherine Langford) begeht Selbstmord und hinterlässt 13 auf Kassette aufgenommene Nachrichten, die an 13 verschiedene Personen adressiert sind, die in irgendeiner Form Einfluss auf ihren unumkehrbaren Schritt hatten. Mit jeder der 13 Folgen erfährt der Zuschauer also etwas mehr über das, was Hannah, jedoch ebenfalls die Personen, mit denen sie viel zu tun hatte, seit dem Tag, als sie neu an die Liberty High kam, erlebt haben.

Und mit jeder Episode wird offenkundiger, dass das Publikum in keiner Weise geschont, sondern permanent mit Schwerverdaulichem konfrontiert wird. Insbesondere die explizite Darstellung von Hannahs Suizid stieß auf derart viel Kritik, dass man sich bei Netflix schließlich doch noch dazu entschloss, die Szene zu entfernen. Den Streamingdienst-Hit zeichnet aber gerade aus, dass er sehr viel zeigt und gleichzeitig sehr oft die Kamera überdurchschnittlich lange bestimmte Momente einfangen lässt. So wird etwa Hannahs Vergewaltigung durch Bryce Walker (Justin Prentice) beinahe ausschließlich über ihr Gesicht erzählt. Diese Aufnahmen sind für diejenigen, die vor dem Bildschirm sitzen, schon schwer zu ertragen, doch das Kopfkino, das parallel abläuft, macht es eigentlich erst so richtig unerträglich. Dieser Wechsel zwischen sichtbarer körperlicher, allerdings auch seelischer Gewalt und dem, was nur angedeutet und unserer Fantasie überlassen wird, macht einen großen Teil der Wucht aus, der man beim Schauen standhalten muss.

Vorgeworfen wurde der Debüt-Staffel in erster Linie, dass hier Hannah Bakers Entscheidung, ihrem Leben ein Ende zu setzen, regelrecht glorifiziert worden wäre und auch die anderen dem Zuschauer vorgestellten Teenager nahezu nichts Positives erleben würden, was für junge Menschen, die zumindest schon einmal mit dem Gedanken gespielt haben, dem Beispiel der Protagonistin zu folgen, hochgradig gefährlich sein könnte. Andererseits gab es jedoch ebenfalls zahlreiche Stimmen, die darauf verwiesen, dass primär der Umstand, dass thematisiert wird, inwiefern ihre Tat das Leben so vieler anderer Personen massiv und nachhaltig verändert hat und weiterhin verändern wird, auch eine Art Weckruf sein kann, um sich Hilfe zu suchen. Dieser Prozess des Abwägens und Diskutierens war von den inhaltlich Verantwortlichen durchaus einkalkuliert worden, wie sie mehr als einmal in Interviews betonten. Und so abwegig ist es auch nicht, zu sagen: „Uns ist bewusst, dass wir uns auf einem extrem schmalen Grat bewegen und es mit Sicherheit auch so ist, dass wir uns mit unseren Drehbüchern angreifbar machen beziehungsweise man mehr als einmal an ausgewählten Kreuzungen anders hätte abbiegen können.“ Unbestreibar ist aber, dass ein generationenübergreifender Diskurs in sehr vielen Ländern zeitgleich angestoßen wurde, den es in dieser Ausprägung vielleicht noch nie gegeben hat.

Hat man all das im Hinterkopf, ist es sogar noch interessanter als ohnehin schon, sich intensiv mit Staffel 2 auseinanderzusetzen. Denn schon die allererste Sequenz beweist, dass Brian Yorkey, der Kopf hinter «Tote Mädchen lügen nicht», und sein Team (dem auch viele externe Berater und Experten angehören, die Szenen intensiv mit Darstellern wie Kreativen vor- und nachbereiten) sehr genau hingehört hatten, als es um die Vorwürfe ging, die sich ihr Werk gefallen lassen musste. So beginnt diesmal etwa alles damit, dass die Schauspieler gewissermaßen die vierte Wand durchbrechen, sich dem Publikum vorstellen, verdeutlichen, dass es sich bei dem Nachfolgenden um Fiktion handelt und wie wichtig es ist, sich an jemanden zu wenden, wenn man irgendeine Art von Krise durchmacht. Außerdem endet nun jede Folge (auch in Staffel 3) mit dem Verweis auf eine extra eingerichtete Internetseite, auf der für Betroffene wichtige Informationen und Anlaufstellen zu finden sind. Man hat also zunächst einmal einen formalen Rahmen geschaffen und die Serie deutlich so kontextualisiert, dass idealerweise keine Szene ohne die Botschaft auskommt: „Denke über das Gesehene und dich nach und überlege, warum du wie dazu stehst.“ Um die Wahrscheinlichkeit, dies aus den präsentierten Ereignissen herauslesen zu können, zu erhöhen, nahm man überdies inhaltliche Anpassungen vor. Yorkey & Co. waren ohnehin gezwungen, sich einen stimmigen Fortgang der Handlung zu überlegen, da schließlich kein zweiter Teil existiert, an dem man sich hätte orientieren zu können. Die dreizehnte Folge endete mit dem jungen Alex Standall (Miles Heizer), dessen Vater bei der Polizei arbeitet, und der sich, weil auch er keinen anderen Ausweg sieht, in den Kopf schießt, allerdings überlebt.

Dies gibt den Machern die Möglichkeit, eine weitere Geschichte zu erzählen, in der es um die Verarbeitung des Geschehenen geht. Dabei sind alle miteinander verbunden, und zwar weil jeder von ihnen während des Prozesses, der im Zentrum der zweiten 13 Episoden steht, eine große Rolle spielt. Jessica Davis (Alisha Boe) etwa, das andere Mädchen, von dem wir früh erfahren, dass sie von Bryce Walker vergewaltigt worden ist, kämpft sich ebenfalls zurück ins Leben und ringt sich letztlich dazu durch, Anzeige zu erstatten und dadurch ein Verfahren zu erwirken, aus dem Bryce aber letztlich nur mit einem blauen Auge hervorgeht. Justin Foley (Brandon Flynn), der Jessica über alles liebt, sich jedoch nicht verzeihen kann, nicht verhindert zu haben, was ihr zugestoßen ist, war drogenabhängig und lebte auf der Straße, ehe ihn seine Freunde dabei unterstützten, ein neues Kapitel aufzuschlagen – die unterschiedlichsten Rückschläge inklusive. Clay Jensen (Dylan Minnette) hingegen will das, was auch Olivia Baker (Kate Walsh) anstrebt: Gerechtigkeit für Hannah! Dass er im Laufe der Verhandlung (die Bakers verklagen die Schule und wollen beweisen, dass sie zumindest eine Mitschuld am Tod ihrer Tochter hat) immer mehr über das Mädchen erfährt, das er so sehr geliebt hat, was ihm widerstrebt, macht es ihm nicht gerade leicht, weiterhin konsequent sein Ziel zu verfolgen.

Gespräche, die er mit der nur in seinem Kopf existenten Hannah führt, helfen ihm allerdings dabei, seine Trauer zu verarbeiten und sie schlussendlich tatsächlich gehen lassen zu können – die Beziehung zu Skye Miller (Sosie Bacon), die selbst mit schwerwiegenden Problemen zu kämpfen hat, geht jedoch dabei in die Brüche. Tyler Down (Devin Druid) wiederum, der vielen bis dato mutmaßlich eher unsympathisch war, wird auf grausamste Weise von Montgomery de la Cruz (Timothy Granaderos) misshandelt, was ihn, der bereits die Dinge, die bei ihm im Argen gelegen hatten, angegangen hatte, endgültig bricht und ihn beinahe zum Amokläufer werden lässt. Somit gehören Tylers finale Augenblicke in dieser Staffel zweifelsohne zu den für den Zuschauer herausforderndsten. Das, was ihm widerfahren ist, wünscht man seinem schlimmsten Feind nicht, diese Brutalität übersteigt so ziemlich alles, was man sich vorstellen kann und doch – wie so oft bei diesem Format – hält man auch dieses Szenario nicht für vollkommen unrealistisch, übertrieben oder aus der Luft gegriffen. An dieser Stelle bringt es den Zuschauer ein weiteres Mal so richtig an seine Grenzen, nachdem diesem bekanntlich schon viel abverlangt worden war: Darf man Mitleid mit jemandem haben, dessen Plan den Tod unzähliger Unschuldiger beinhaltet oder gar Verständnis für ihn aufbringen? Eine hochgradig komplexe Frage, mit der man sich abermals sehr weit aus dem Fenster lehnt – im Wissen darum, sich sehr angreifbar zu machen, denn gerade in den USA ist die Angst vor durch Schusswaffen verursachte Massaker in Schulen aufgrund diverser Fälle aus der jüngeren und älteren Vergangenheit in den Köpfen vieler Menschen verständlicherweise sehr präsent. Noch komplizierter wird das Ganze, da Clay sich Tyler in den Weg stellt, verhindert, dass es zur Eskalation kommt und ihn mithilfe seines sehr guten Freundes Tony Padilla (Christian Naavarro) vor der Polizei in Sicherheit bringt. Durch die tatkräftige Unterstützung einiger bereits genannter und einiger weiterer bedeutender Charaktere wie Zach Dempsey (Ross Butler) oder Cyrus (Bryce Cass) gelingt es ihnen sogar, die Polizei glauben zu lassen, es habe sich um einen Fehlalarm gehandelt. Ist das moralisch vertretbar?

Staffel 3 greift diesen Gedanken auf und erklärt uns früh, dass Tyler seine zweite Chance erst als solche begreifen kann, als es ihm gelingt, sein Trauma anzugehen und sich ausgewählten Personen anzuvertrauen. Sein Handlungsstrang ist symptomatisch, wie die Verantwortlichen die nächsten 13 Folgen angegangen sind: Während in den vorhergehenden gewissermaßen viel nachgereicht wurde, um klarer sehen zu können und noch deutlicher die Auswirkungen von Hannahs Entscheidung für die Menschen aus ihrem Umfeld zu zeigen, geht es Brian Yorkey diesmal spürbar darum, abzubilden, was es bedeutet, nach solch tragischen und prägenden Ereignissen wieder in seinen Alltag zurückzufinden und sich gewissermaßen sein Leben zurückzuerobern. Und deshalb war es auch so wichtig, nochmals ausführlich auf zentrale Aspekte der ersten 26 Episoden des Netflix-Originals einzugehen. Denn Staffel 3 ist nun endgültig die Geschichte derer, die noch leben. Gleichzeitig – und das sieht man in der Fiktion nicht so häufig – lässt man die zahlreichen vorhandenen seelischen Wunden nach wie vor nicht einfach heilen, sondern unterstreicht stattdessen so nachhaltig, dass es viel Zeit braucht, um bestimmte Dinge zu verarbeiten und dass es auch sein kann, dass man manches womöglich auch nie in Gänze verarbeitet. Das ist erneut für den Zuschauer nur schwer verdaulich. Der hergestellte Kontext aus Tat, kurzfristigen und langfristigen Auswirkungen dürften allerdings zu einem beitragen: zum Schärfen der Sinne.

Weiterlesen auf Seite 2 unserer großen Kritik! Wo liegen Stärken und Schwächen der nun neuen Folgen?

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Kingsdale
27.08.2019 11:38 Uhr 1
Ehrlich gesagt, hat es mich schon gewundert, das es eine dritte Staffel gegeben hat. Die erste Staffel wurde kontroverse aufgenommen, aber schließlich ging es um ein Thema, das tagtäglich so, zumindest so ähnlich, wirklich passiert! Mobbing, Vergewaltigung usw. Schwere Kost, aber die erste Staffel sollte an Schulen gezeigt, besprochen werden. Es ist ein rales Thema, was aber heute schon wieder etwas in den Hintergrund geraten ist.

Nach der Ersten war es schwer da fortzusetzen, aber es gab einiges Aufzuarbeiten und die Zweite war dann auch etwas zäh. Man ging etwas Unzufrieden aus der Ersten raus und es mußte noch was kommen. Doch nach dem Ende der Staffel 2 war der Cliffhanger so heftig, das auch hier wieder was kommen mußte. Die gerade laufende dritte Staffel schließt aber gut an diesen Cliffhanger an und hat wieder die Qualität der Ersten. Ich bin noch nicht ganz durch, aber sie fesselt, auch wenn ich mit meinen 49 Jahren, schon aus dem Alter raus bin. Eine Vierte, die alles Abschließen soll, wird kommen, das hat Netflix schon angekündigt. Aber dann reicht es auch, da man nicht noch mehr alles Zerstückeln sollte.
Quotermain
27.08.2019 17:01 Uhr 2

Also erstens finde ich den Originaltitel 13 reasons why 1000mal besser als den deutschen.

Zweitens dürfen Lehrer nur noch sehr eingeschränkt (c) Material verwenden.

Ich gehöre auch noch zur Generation, die durch "Die Kinder vom Bahnhof Zoo" und "Rolltreppe abwärts" ^gewürgt^ wurde und empfinde es für jedes Kind als Nötigung zwangsweise so etwas inhalieren zu müssen.

Aufklärung, Vermeidung, Drogenaufklärung etc. als pädagogischen Inhalt...super. Oder Eltern mit ihren Kindern...super.

Diese überzogene effekthascherische Pseudoaufklärung ist meiner Meinung nach nichts für die Schule.

Als Serie ok. Aber wie korrekt angedeutet...für 49jährige verständlich, aber für Kinder?

Da aber schon eher 1300 Reasons, why not!

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