Die Kritiker

«23 Morde»: Joyn stöbert im ProSiebenSat.1-Giftschrank

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Die vier Jahre lang verschobene Krimiserie ist nur für jene sehenswert, die Interesse an aufgegebenen TV-Projekten haben.

Hinter den Kulissen

  • Regie: Felix Herzogenrath, Edzard Onneken
  • Drehbuch: Alex Eslam, Sven Poser, Birgit Maiwald, Markus Hoffmann, Uwe Kossmann, John-H. Karsten, Annika Tepelmann, Sven Böttcher, Johannes Lackner. Konzept: Alex Eslam. Idee: Malte Can, Alban Rehnitz
  • Kamera: Mathias Neumann
  • Schnitt: Thomas Zachmeier, Antonia Fenn
Pilotfolgen, die nicht weiter verfolgt werden. Serien, die ohne jemals näher genannten Grund im Giftschrank versauern. Das sind die sagenumwobenen Fundstücke, nach denen sich Fernsehjunkies sehnen. Einst strahlten US-Sender gelegentlich ohne größere Vorwarnung aufgegebene, hinter den Kulissen längst abgeschriebene Projekte mitten im Sommer aus. Daher konnte beispielsweise die 90er-Sitcom-Pilotfolge «Where's Rodney» für die Nachwelt festgehalten werden, der Auftakt zu einer nie verwirklichten Serie, in der ein Teenager die sonderbare Fähigkeit hat, jederzeit den Komiker Rodney Dangerfield herbeizuzaubern.

Joyn ist ein ambitioniertes TV-Livestreamingportal und zugleich ein VOD-Service von ProSiebenSat.1 und Discovery. Doch Joyn könnte auch zu einer Fundgrube (andere würden sagen: zu einer Schutthalde) für genau solche Projekte werden. Zumindest ein solches Format wurde von ProSiebenSat.1 bereits ohne nennenswerten Kommentar auf Joyn geparkt: «23 Morde», eine deutsche Krimiproduktion, die vier Jahre lang im Giftschrank Staub angesetzt hat – nach offiziellen Verlautbarungen, weil man keinen geeigneten Sendeplatz für die einst für Sat.1 angedachte Serie gefunden hat. Inoffiziell haben sich Branchenkenner längst ein Urteil gebildet: «23 Morde» ist wohl einfach nicht gut.

Was sich zumindest bereits wenige Augenblicke nach Beginn der ersten Ausgabe abzeichnet: Man merkt dem spät seine Premiere feiernden Format sein Alter an. Im Prolog der Auftaktfolge lässt eine fiktive Ausgabe der Sat.1-Nachrichten die Grenzen zwischen Krimiserie und Programmrealität verschwimmen – aber im unteren Bildrand rollt der Sat.1-Ball in seiner alten Farbgebung vor sich her.

Das ist jedoch mit großem Abstand das geringste Problem von «23 Morde». Die Serie reitet konzeptuell auf einer Welle mit, auf der schon vor vier Jahren arg viele geritten sind und die mittlerweile nur noch überlasteter ist: Die Polizei will dringend einen gefährlichen Täter schnappen – und arbeitet daher zähneknirschend mit einem unberechenbaren und exzentrischen, jedoch brillanten Experten zusammen. Das waren schon (Fake-)Mentalisten, Uni-Dozenten und Uni-Dozenten, die mit Albert Einstein verwandt sind. Und natürlich bleibt die Hannibal-Lecter-Saga unvergessen. Hier ist es kein (Fake-)Mentalist, kein Uni-Dozent und kein Uni-Dozent, der mit Albert Einstein verwandt ist, sondern ein Serienkiller. Ein sehr affektiert auftretender Serienkiller.

Gespielt wird er von Franz Dinda, der zu den größten Stärken der Sky-Eventserie «Das Boot» zählt, und auch in diesem vier Jahre alten Serienprojekt spielt er gut auf. Hier spielt er jedoch auch mit aller Macht gegen das verkorkste Drehbuch. Würde «23 Morde» im Fernsehen laufen, müsste der Heimatsender befürchten, dass Leute, die mittendrin zufällig reinzappen, davon ausgehen, dass es eine Parodie ist. Eine Beispielszene gefällig? Nun: Dindas Figur, Maximilian Rapp, hält einer ihre Waffe zückenden Polizistin einen selbstgefälligen Monolog, während er eine blutverschmierte, spitze Waffe in den Händen hält und großspurig erklärt, dass man ihn braucht. Der Anblick dieser Szene, der dick aufgetragene Sermon Rapps, all das ist eine Nasenlänge von «Scary Movie» entfernt, in diesem Krimithriller aber bierernst gemeint.

Dindas Mischung aus Perfidität und kindischer Großspurigkeit lässt Rapp trotzdem halbwegs interessant dastehen, während zahlreiche Randdarsteller aus der «Familien im Brennpunkt»-Schule ausgebrochen scheinen: Immer wieder werden Zorn, Panik oder Ratlosigkeit in einem "flachen Geschrei" ausgedrückt – hohe Lautstärke, ebenerdige Intonation. Aus dieser Schule stammen auch jene Szenen, die Rapps Eigenarten zeigen. Da wird der Blutdürstige auch mal durch den Anblick zweier sich zankender Menschen arg getriggert, sobald sie sich schroff am Arm anpacken, was durch hyperdramatische Nahaufnahmen und Rückblenden in Sat.1-Nachmittags-Optik visualisiert wird.

Unklar ist dagegen, aus welcher Fernsehschule das Ermittler-Duo Tara Schöll (Shadi Hedayati) und Henry Kloss (Bernhard Piesk) ausgebrochen ist. Hedayati hat zweifelsohne Kamerapräsenz, bräuchte aber dringend ein Skript, das ihrer Figur eine klare Kontur verleiht, statt sie zwischen mürrischem Vertrauen in Rapp und Dauergeilheit auf Kloss switchen lässt. Und Piesk? Er ist das fünfte Rad an diesem Wagen und hat daher gar keine Chance, positiv aufzufallen. Die Regieführung und der Filmschnitt sind oft lieblos, es kommt einfach keine bleibende Atmosphäre auf und die Szenenwechsel sind ähnlich abrupt wie die Soundabmischung halbgar. Hier wird gegen die Grundregel "Unterlege Dialogszenen nicht mit Liedern, die Text haben, es sei denn, das soll was aussagen" verstoßen, noch dazu mit einem Lied, das nur dezent leiser ist als der Dialog. Dort sind Soundeffekte nicht auf die Akustik des Settings abgestimmt.

Kann man sich antun, muss man aber nicht. Andererseits: Joyn kostet nichts, ProSiebenSat.1 muss es mit exklusivem Content befüllen und Neugierige gibt es immer. Insofern: Bitte mehr davon, was hat der Giftschrank noch zu bieten?

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