In rund sechs Wochen gibt es – in Teilen Europas – zwei neue Streaming-Dienste – Disney+ und AppleTV+. Die zwei amerikanischen Anbieter folgen auf Amazon und Netflix, die seit rund fünf Jahren den Markt dominieren. Die Streaming-Dienste stehen vor einer Herausforderung, denn 21 EU-Staaten beschlossen im Oktober 2018, dass die Dienste künftig eine 30-prozentige Quote an europäischen Inhalten anbieten müssen. Die kommerziellen Anbieter müssen diese Auflagen bis Ende 2020 erfüllen, sonst droht ihnen eine Strafzahlung.
Jedoch ist noch unklar, wie diese 30 Prozent erfüllt werden müssen: Handelt es sich um einzelne Serien oder um die Laufzeit? Es wird allerdings erwartet, dass die Abgeordneten des EU-Parlaments dieses Problem bis Ende 2019 lösen. „Es wird eine Herausforderung für die Europäische Kommission sein, ein faires System für die Quote zu entwickeln“, sagte Ed Border von der Londoner Beratungsfirma Ampere Analysis gegenüber Variety. Möglich wäre zum Beispiel, dass sich die Anbieter, um alle Vorlagen und Quoten zu erfüllen, sehr günstige und vielleicht auch minderwertige Programmware sichern.
Was steckt hinter der Quote? Welche Ziele verfolgt das Parlament mit der Quote? Grundsätzlich geht es um die Förderung von Vielfalt; auch im Streaming-Sektor. Jedoch kann dies auch zum Nachteil werden, denn um diesen Wert aufrecht zu erhalten, können die Streaming-Dienste dem EU-Publikum bestimmte Produktionen aus Südamerika, Afrika und Asien vorenthalten. Die Rechnung ist einfach: Weniger Ware aus dem Ausland heißt auch, weniger EU-Produkte, um die letztliche Quote zu erfüllen. Damit würde die kulturelle Förderung einen riesigen Rückschlag erleiden.
Die EU-Quote wird sowohl für etablierte Player, etwa Amazon und Netflix, als auch für AppleTV+ und Disney+ gelten. Die bisherigen Anbieter Netflix und Amazon Prime Video haben einen großen Vorsprung. Die beiden Streaming-Giganten arbeiten seit mehr als einem Jahr auf die Quote zu und sind laut Ampere kurz davor, diese zu erreichen. Netflix und Amazon haben im Durchschnitt etwa 5.000 respektive 3.000 Formate in den europäischen Märkten – mit Ausnahme von Großbritannien, dort hält man sogar deutlich mehr Titel. Die europäischen Inhalte der beiden Unternehmen bestehen aus Originalinhalten und Akquisitionen. Amazon ist in Deutschland beispielsweise ein guter Kunde von Brainpool, Netflix hat zahlreiche Formate vom ZDF eingekauft.
Disney+ und AppleTV+ werden zur Markteinführung nicht annähernd so viele eigene Originals haben, dennoch wird man zu Beginn die Quote von 30 Prozent aus der EU nicht erreichen. Laut Ampere wird AppleTV+ in Europa mit 38 Formaten verfügbar sein, davon kommen lediglich 6,2 Prozent aus Europa. Disney kommt auf fast 1.000 Formate, davon kommen sogar weniger als fünf Prozent aus Europa.
Die Strategien von Apple und Disney+, sie unterscheiden sich grundsätzlich. Disney+ wird auch deshalb eine derartige Formatfülle vorweisen können, weil man – und das freut viele Fans des Micky-Maus-Konzerns, die allergrößten Teile seines Archivs öffnen und somit etliche Klassiker zeitlich flexibel zum Abruf bereit stellen wird. Ein solches Archiv hat Apple, das erst jetzt in die Produktion von Unterhaltungssendungen und –shows einsteigt, natürlich nicht. Entsprechend bietet AppleTV+ mit Start im November hauptsächlich Neuware an. Um letztlich die 30-Prozent-Quote zu erreichen, muss sich der Apfel-Konzern demnach auf Originalware verlassen.
„Im Gegensatz zu Netflix und Amazon, die viele Serien eingekauft haben, um ihre Bibliotheken zu vergrößern, sieht die Strategie von Apple in Europa so aus, als würde man sich auf eine ausgewählte Anzahl von Originalfilmen und Serien mit großen Stars und Kreativen konzentrieren“, sagt Tim Westcott von IHS Markit gegenüber Variety. Der Vorteil von Apple ist klar: An eigenen Serien hält man alle Rechte, kann damit also machen, was man möchte und alle Produktionen somit auf der ganzen Welt anbieten.
Der Konzern muss bei seinen Bestellungen somit aber Europa berücksichtigen: Apple arbeitet beispielsweise an einem Thriller namens «Faceless», der von der britischen Firma Artists Studio produziert wird. Außerdem soll eine Epochen-Reihe entstehen, die von einer englischen und französischen Firma stammt. Die Firma Gaumont entwickelt für Apple auch eine animierte Serie. Disney hingegen wird in Europa einige Akquisitionen tätigen, um die Quote zu erfüllen.
Hier ist der Unterschied zu Disney: Da Disney über große Lizenzabkommen in wichtigen europäischen Märkten verfügt, unter anderem mit Sky und ProSiebenSat.1 in Deutschland, wird sich das Angebot von Land zu Land unterscheiden. In Deutschland zum Beispiel ist es nicht klar, ob es künftig keine anderen Deals mehr gibt, oder ob der Konzern auch weiterhin umfangreich mit ProSiebenSat.1 und Sky zusammenarbeitet. Letzteres ist nicht unwahrscheinlich: Erst vor wenigen Wochen lizenzierte das Unternehmen die 14. Staffel von «Grey’s Anatomy» an die RTL-Gruppe, seither ist das Format bei TV NOW verfügbar. Klar ist: «Die Simpsons», die seit der Übernahme zum Micky Maus-Konzern gehören, werden allerdings online nur bei Disney+ zur Verfügung stehen. Im linearen Free-TV dürften sie auch weiterhin zu ProSieben gehörten.
Genauso unbekannt ist, wie WarnerMedia künftig operiert. Das Unternehmen unterhält viele Verträge zum Beispiel mit Sky und produzierte zusammen Serien wie «Chernobyl». Da HBO und HBO Max in den Vereinigten Staaten von Amerika aber weiterhin getrennt operieren, wird die bisherige Europa-Strategie nicht aufgehen. Vielmehr kann WarnerMedia mit dem riesigen Archiv von WarnerBros. und den aktuellen Projekten punkten.
"Disney+, Apple TV+ und die anderen Streaming-Anbieter, wie HBO Max und Comcasts Peacock, werden lokale Inhalte anbieten müssen, wenn sie global erfolgreich sein wollen", sagt der ehemalige TF1-Studiochef Tristan du Laz zu Variety, der gerade die Produktionsfirma Originals Factory gegründet hat. Als Vorbild nennt der Fernsehmacher die Musikbranche, die sich zuletzt auch wegen der voranschreitenden Digitalisierung neu erfinden musste. "Die Musiklabels waren die ersten, die verstanden haben, dass Investitionen in lokale Künstler entscheidend waren, und heute sehen wir, dass die Universal Music Group zum Beispiel fast die Hälfte ihres Jahresumsatzes von lokalen Künstlern erhält."
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