„
Natürlich finde ich, dass die Senderchefs nicht so viel auf die Quoten schauen sollten, gleichzeitig müssen sie sich halt für ihre Existenz rechtfertigen, also nehmen sie die Quoten als Maßstab um zu zeigen: Schau mal, unsere Produktionen verfolgen viele Leute. Irgendwie ergibt das Sinn, aber ich würde mir eine gesündere Balance wünschen.
”
Titus Selge
Ja, ist halt ein schwieriger Fall. Ich will auch gar nicht zu viel über die langweiligen Quoten reden – aber die Quoten sind ja immerhin einer der Gründe, weshalb ich so wenig Fernsehen mache. (lacht) Natürlich finde ich, dass die Senderchefs nicht so viel auf die Quoten schauen sollten, gleichzeitig müssen sie sich halt für ihre Existenz rechtfertigen, also nehmen sie die Quoten als Maßstab um zu zeigen: Schau mal, unsere Produktionen verfolgen viele Leute.
Irgendwie ergibt das Sinn, aber ich würde mir eine gesündere Balance wünschen. «Totenfieber» ist ja auch meilenweit von dem entfernt, was das Degeto-Publikum normalerweise schaut. Alle Beteiligten wissen, dass das ein Risiko ist. Dennoch haben wir ihn gemacht. Weil wir Lust drauf hatten. Und zwar auch die Leute von der Degeto. Das freut mich – ich mag solche Ausnahmefälle. Und manchmal hat man ja auch Glück und aus irgendeinem Grund läuft so ein Ausnahmefilm trotzdem gut. Das ist ja das Sonderbare: man kann es eben nicht vorhersagen.
Die Rezeptionssituation beim Fernsehen ist eigentlich ein Albtraum für jeden Filmemacher. Ich arbeite ja sehr lange an einem Film. Ich arbeite am Drehbuch mit, dann kommt der Dreh, ich sitze mit im Schneideraum – da geht manchmal ein halbes Jahr für drauf. Andere Fernsehregisseure machen drei, vier Filme im Jahr. Sollen sie, ist deren Entscheidung. Ich aber will mich in einen Film reinknien. Und dann läuft der halt im Fernsehen und die Leute schalten zufällig mittendrin rein oder sie bleiben dran, weil sie das Programm vorher gesehen haben und sie keine Lust haben, umzuschalten. Aber sie machen nebenher die Wäsche oder das Essen oder gehen Zähneputzen – wenn du was für's Fernsehen drehst, weißt du nie, ob du die Hintergrundberieselung produzierst oder den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Und du bist enorm davon abhängig, was im Gegenprogramm läuft – viel mehr, als es im Kino der Fall wäre. Im Kino schaut das Publikum einen Film mit Absicht an. Oder gar nicht. Eigentlich völlig absurd, das Ganze. (lacht)
„
Wenn wir den Leuten immer dieselben Erzählungen vorsetzen, denken die irgendwann: Ja, so ist das halt. Und nur so. Einen anders gearteten Film können sie dann gar nicht mehr dechiffrieren – und damit geht eine wichtige Kulturtechnik verloren.
”
Titus Selge
Natürlich nicht. Aber ich mache das Publikum nicht allein dafür verantwortlich. Wer achtet schon darauf, wer bei einem Film Regie geführt hat? Die meisten Medien erwähnen den Regisseur nicht mal in ihren Besprechungen – das interessiert halt niemanden, außer vielleicht die anderen Regisseurinnen und Regisseure.
Dabei geht es nicht nur um Eitelkeiten, sondern auch um so etwas Wichtiges wie Erzählkultur. Denn wenn wir den Leuten immer dieselben Erzählungen vorsetzen, denken die irgendwann: Ja, so ist das halt. Und nur so. Einen anders gearteten Film können sie dann gar nicht mehr dechiffrieren – und damit geht eine wichtige Kulturtechnik verloren.
Ich sehe das bei meinem Sohn. Der ist zwölf Jahre alt und die Dramaturgie von YouTube-Clips gewohnt. Für ihn sind 90-minütige Fernsehfilme schon anstrengend – das ist ziemlich besorgniserregend. Bei der Zielgruppe, die das öffentlich-rechtliche Fernsehen ansprechen will, ist das zwar noch anders, aber sie braucht halt einen bestimmten Aufbau. Das wissen die Sender. Die wissen exakt: Wenn bis Minute zehn nicht dies und das passiert ist, sinkt die Reichweite, je nach Sendeplatz, direkt um ein bis zwei Millionen. Also wird in der Primetime konsequent vermieden, gegen die Gewohnheiten zu verstoßen.
„
Es gibt Studien, nach denen das Publikum ab einer gewissen Laufzeit eine höhere Hemmschwelle hat, die Fernbedienung wieder anzufassen.
”
Titus Selge
Ja, sehen Sie, so unterschiedlich kann die Wahrnehmung sein! Sie finden es mutig, das Publikum quasi reinzulegen, erst einen normalen Krimi zu versprechen und dann etwas ganz anderes zu liefern. Aber aus der Sicht des Senders ist das die sichere Variante.
Das Originaldrehbuch fing in Kuala Lumpur an und war durchgehend als Thriller zu erkennen. Und mich hat man gebeten, einen Einstieg zu finden, der das Publikum nicht verschreckt. Also beginnt der Film wie ein klassischer Regionalkrimi. Denn es gibt Studien, nach denen das Publikum ab einer gewissen Laufzeit eine höhere Hemmschwelle hat, die Fernbedienung wieder anzufassen.
Das ist ja fast schon perfide. (lacht)
Neeein, gar nicht. Der Sender erfüllt so seinen Auftrag, den Leuten das zu liefern, was sie sehen wollen. Es gibt viele Leute, die gerne Nina Kunzendorf sehen - ich auch übrigens - daher muss sie so früh wie möglich ihren Auftritt im Film haben. Das öffentlich-rechtliche Publikum findet Geschichten über verschwundene oder verstorbene Kinder spannend, also wird keine Zeit verschwendet, klar zu machen, dass es in «Totenfieber» auch darum geht. Dann haben es sich die Leute bequem gemacht, die Fernbedienung liegt schön weit weg … Sind all diese Schalter erst einmal gedrückt, kann ich anfangen, ausgefallener zu erzählen.
„
Es wäre wichtig, den Kindern beizubringen, wie sehr sie bei diversen YouTube-Clips manipuliert werden. Was für Stuss sie zum Geldausgeben verleiten soll! [...] Dass die Schulen die Medienerziehung so vernachlässigen, hat was von systematischer Verblödung.
”
Titus Selge
Ich stimme Ihnen da zu. Eigentlich sollten die Sender es sich auf die Fahnen schreiben, ihr Publikum in verschiedene Erzählformen einzuführen, um so ihren Horizont zu erweitern. Aber das wird ja nicht einmal an den Schulen gemacht. Dabei wäre es unerlässlich, einen umfassenden Medienunterricht anzubieten, aber Fehlanzeige.
Es wäre wichtig, den Kindern beizubringen, wie sehr sie bei diversen YouTube-Clips manipuliert werden. Was für Stuss sie zum Geldausgeben verleiten soll! Das ist handwerklich oft so erbärmlich und durchschaubar – wenn man nur etwas Ahnung von dem Metier hat. Dass die Schulen die Medienerziehung so vernachlässigen, hat was von systematischer Verblödung.
Mit mehr Medienkenntnis da draußen wäre sicher auch Ihr Film «Unterwerfung» anders angekommen – und sei es nur, weil mehr Leute sich darüber aufgeregt hätten, dass «Maischberger» im Anschluss mit dem Titelthema "Die Islamdebatte: Wo endet die Toleranz?" fragwürdiges Framing betrieben hat. Dass der Film verschieden aufgefasst wird – geschenkt. Aber durch den Beiklang dieses im Anschluss behandelten Talkshowthemas hat Das Erste das Publikum sehr klar in eine Richtung gelenkt ...
Das war für mich sehr deprimierend: Es wurde als Themenabend verkauft, aber es wurde kein Wort über meinen Film verloren. Dabei wäre mein Onkel, der ja zugleich der «Unterwerfung»-Hauptdarsteller war, ein wunderbarer Gast gewesen – das habe ich auch vorgeschlagen. Ich fand, man hätte mit ihm als Gast und mit dem Film als Diskussionsausgangspunkt wunderbar darüber reden können, wie man intellektuell und kulturell die Angst vor dem Islam behandeln kann, statt den Populisten das Feld zu überlassen. Aber das sei zu intellektuell verkopft, hieß es. Das wolle niemand sehen. Also, ich habe damals den Livechat verfolgt, der an dem Abend eingerichtet war und da waren sehr intelligente, spannende Fragen und Thesen dabei.
„
Ich wäre für eine Art Bildungsquote – ein gewisser Prozentsatz an anspruchsvollen Spielfilmen und Dokus muss um 20.15 Uhr laufen.
”
Titus Selge
Ich wäre für eine Art Bildungsquote – ein gewisser Prozentsatz an anspruchsvollen Spielfilmen und Dokus muss um 20.15 Uhr laufen, um die Leute wieder an sperrige Erzählformen zu gewöhnen. Ich wünsche mir mehr erzählerische Experimente auf guten Sendeplätzen, wie es bei «Totenfieber» ermöglicht wurde.
Vielen Dank für das spannende Gespräch.
«Totenfieber - Nachricht aus Antwerpen» ist am 6. Oktober 2019 ab 21.45 Uhr im Ersten zu sehen.
Es gibt 9 Kommentare zum Artikel
04.10.2019 17:54 Uhr 1
04.10.2019 18:44 Uhr 2
04.10.2019 19:44 Uhr 3
08.10.2019 14:08 Uhr 4
Und wenn der Zuschauer mit seinen Beiträgen beispielsweise schon den "Tatort" finanziert, dann ist es einfach nur dumm-arrogant beispielsweise zu behaupten, er verstünde nichts von Kunst oder dergleichen. Das ist schlicht dummes Zeug. Wenn man die ganze Woche gearbeitet hat und am Sonntagabend die neue Woche schon im Startloch steht, dann ist es nur allzu verständlich, dass er sich am Sonntagabend nicht mit gewagten Filmexperimenten befassen will, sondern einfach nur mit traditioneller Erzählweise und Dramaturgie, einem klassischen Spannungsbogen usw. unterhalten werden will.
08.10.2019 15:08 Uhr 5
Hier verweise ich gerne auf die "Präambel", dass Selge sein "Leid" in einem freundlich amüsierten Tonfall vorträgt, in einem kecken "Ich weiß, ich weiß, ich hab echt Probleeeeeme, nicht?"-Klang, der alles um ein paar Prozentpunkte relativiert. Gesprochen kommt alles weniger nach "Wehklagen, nur um wehzuklagen" rüber. Da sich Stimmfarben schwer abtippen lassen, habe ich extra die Einleitung verfasst.
Finde nicht, dass Selge dir da groß widersprechen würde. Da greift ja unser Gespräch darüber, dass man mehr Filmarten verstehen (oder "leichter konsumieren") könnte, würde man mit mehreren von ihnen konfrontiert. Wenn aber Feierabendprogramm fast nur aus Standardkrimis besteht, natürlich überrumpelt dich dann ein Voodoo-Thriller. Das ist nicht deine Schuld - das ist die der Programmplaner.
Ich würde das jetzt mal (etwas hinkend) mit Schärfe vergleichen. Wenn du in einem Haushalt groß geworden bist, wo selbst Pfeffer vorsichtig dosiert wurde, brennt dir bei Tabasco die Zunge weg. Wer oft scharf isst, zuckt bei Tabasco dagegen nicht einmal mit der Wimper und kommt auch locker mit Habaneros klar. Gewohnheitsfrage.
09.10.2019 11:08 Uhr 6
09.10.2019 12:12 Uhr 7
09.10.2019 16:35 Uhr 8
09.10.2019 17:19 Uhr 9
Das war ja auch nur ein aus einem konkreten Grund genanntes Beispiel.