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Auch das Gros der Amerikaner, das im Land geboren wurde und deswegen nie das Vergnügen mit verbohrten Einwanderungsbeamten und übergriffigen Abschiebeoffiziellen hatte, kommt nicht mehr an den Ereignissen vorbei und kann sie nicht mehr als Randnotiz in den Abendnachrichten abtun. Denn der Vollzug findet nicht mehr in irgendwelchen Innenstädten und am Straßenrand von Highways in Arizona statt, sondern mitten in ganz normalen Wohngebieten, wo ganz normale Leute leben, ganz normale Amerikaner eben: nur, dass ein paar von ihnen – auch zur großen Überraschung ihrer genauso unauffälligen Nachbarn – nicht einmal über ein gültiges Visum verfügen, geschweige denn einen US-Pass.
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Ihre Sympathie mit den gezeigten Protagonisten muss die Dokumentation dabei gar nicht einmal sonderlich zur Schau stellen. Die Lebensläufe, Kämpfe und Ziele der auftretenden Personen sprechen für sich – genauso wie das Auftreten der gesichts- und gnadenlosen Vollstreckungsbeamten. Die Interviews mit Rechts- und Einwanderungsexperten, Anwälten und ehemaligen Offiziellen, mit denen «Leben ohne Papiere» die ausführliche Schilderung der gezeigten Schicksale unterfüttert, sind nur illustrierendes Material zur besseren Einordnung.
Doch die Protagonisten sprechen aus sich heraus, und diese Netflix-Doku tut richtig daran, sie weder zu dämonisieren noch zu verklären. So steht am Schluss eine erstaunlich nüchterne, aber doch schonungslose Bestandsaufnahme der Umstände, in denen der blinde Fleck Amerikas existieren muss, und sich trotz fehlender Dokumente, Sozialversicherungsnummern oder Bankkonten eine erstaunlich normale Existenz aufbaut, die Jahrzehnte halten kann: Doch es sind Jahrzehnte der ständigen Angst vor den Abschiebekommandos und den menschenunwürdigen Lagern. Ein Doppelleben, das im Fernsehen noch nirgendwo sonst so eindrucksvoll geschildert worden ist.
«Leben ohne Papiere» ist bei Netflix verfügbar.
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