First Look

«Brotherhood»: Mitreißendes Knast-Katz-und-Maus von Netflix

von

Schier nirgendwo sonst geraten Netflix-Serien so politisch (und dabei gut erzählt) wie in Brasilien. Neuestes Beispiel: «Brotherhood».

Cast & Crew

Produktion: 02 Filmes
Schöpfer und Regisseur: Pedro Morelli
Darsteller: Naruna Costa, Seu Jorge, Hermila Guedes, Lee Taylor, Danilo Grangheia, Pedro Wagner, Wesley Guimarães u.v.m.
Als die Juristin Cristina (Naruna Costa) vor zwanzig Jahren ihren älteren Bruder Edson (Seu Jorge) zum letzten Mal gesehen hat, wurde er gerade von einem Haufen Polizisten zusammengeschlagen und in die nächste Haftanstalt abtransportiert, nachdem sie ihn bei ihrem Vater wegen seiner umfangreichen Drogengeschäfte verpfiffen hatte. Und während die allgemeine Perspektivlosigkeit der verarmten Slums Edson schon in früher Jugend auf den Pfad der Kriminalität geführt hatte, bewahrte sich Cristina ihre teilweise brutale Integrität und schlug eine Justizkarriere ein.

Zwei Jahrzehnte lang ging das gut – bis plötzlich die Gerichtsakte ihres Bruders auf ihrem Schreibtisch landet. Was da so drin steht, ist nichts für schwache Nerven: Edson sitzt immer noch in Haft und ist als einer der Rädelsführer der kriminellen Bande Brotherhood (portugiesisch: Irmandade, daher auch der Titel der Serie) ständig in Schwierigkeiten. Deshalb wird er schier ununterbrochen in entbehrungsreicher Isolationshaft gehalten und regelmäßig von den Wächtern halb tot geschlagen. Weil Cristina das (verständlicherweise) nicht mehr mit ansehen kann, will sie ihn da rausholen – indem sie die Unterschrift der zuständigen Justizbeamtin fälscht.

Als sie auffliegt, landet sie selbst im Knast. Doch weil ein schmieriger, ausgekochter, aber unglaublich effektiver Kommissar die kriminelle Bruderschaft um alles in der Welt aushebeln will, bietet er ihr einen Deal an: Sie kommt frei, wenn sie ihm bei dieser Zielsetzung zuarbeitet, das Vertrauen ihres Bruders gewinnt und ihm alle dabei gewonnen Informationen zukommen lässt. Das Katz-und-Maus-Spiel hat begonnen.

„Das ist ein Knast, kein Luxushotel“, ist als Antwort der Folterknechte auf Fragen zu Missständen in ihrer Justizvollzugsanstalt eine so erschütternde wie leider für viele einleuchtende Antwort. Was in Brasilien noch verschärfend hinzu kommt: Dieser Satz könnte genauso gut aus dem Munde des Staatspräsidenten Jair Bolsonaro stammen, der mit der politischen Forderung, Zehntausende Kriminelle einfach außergerichtlich erschießen zu lassen, seinen äußerst erfolgreichen Wahlkampf bestritt und nicht zuletzt deswegen zu einem der beliebtesten Politiker des Landes avancierte. Schon mit der spekulativen Dystopie «3 %» und der paraphrasierten, wenn auch kontroversen Aufarbeitung des Waschstraßenskandals «The Mechanism» machte der brasilianische Arm von Netflix mit hochpolitischen Serien von sich reden, als eine Art lateinamerikanischer Anti-Populismus-Sender, in der Weltregion mit den meisten populistischen Regierungen überhaupt. «Brotherhood» setzt diesen Trend fort – und ist damit erneut so heiß und kontrovers diskutiert wie populär geworden.

Dass die Trennschärfe zwischen „guten“ und „bösen“ Figuren im juristischen wie im ethischen Sinne hier oftmals verschwimmt, ist dabei eher eine Bestätigung des wohldurchdachten inhaltlichen Konzepts als ein Kritikpunkt. Schwerverbrecher Edson ist Opfer der unmenschlichen Gewalt des Staatsapparates, und gleichzeitig Tonangeber einer ebenso menschenverachtenden Verbrecherbande. Seine Schwester Cristina ist als Juristin eine Vertreterin der institutionellen Gerechtigkeitsmaschinerie, bedient sich aber auch freimütig rechtswidriger Mittel, um ans Ziel zu kommen. «Brotherhood» scheut auch bei seinem essentiellen Thema die Ambivalenz nicht – und baut so von der ersten Minute an einen sehr starken Spannungsbogen auf. Angesichts dessen, dass sich die Serie auf der zweiten Ebene durchaus für eine Humanisierung des mitunter bestialischen brasilianischen Strafvollzugs stark macht, dürfte ihr die nächste Salve vulgärer Beschimpfungen des Staatspräsidenten sicher sein – für die Macher vielleicht das schönste Lob.

«Brotherhood» ist bei Netflix verfügbar.

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