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Sofern man die Actrice 2012 nicht als Königin Caroline Mathilde erlebt hatte, dürften viele, die sich 2015 den Science-Fiction-Geheimtipp «Ex Machina» von Alex Garland im Lichtspielhaus ihres Vertrauens angesehen haben – wenige Monate nach dessen Veröffentlichung gab die junge Schauspielerin zudem ihr Fantasy-Debüt in «Seventh Son» –, ihren Augen nicht getraut und spätestens beim Abspann nur noch eine Frage im Sinn gehabt haben: Wer war das, der diese wahnsinnig facettenreichen KI Ava auf so eindrucksvolle Weise zum Leben erweckt hat? Die Antwort überspringen wir, denn allerspätestens 2018 wusste es die Mehrheit derer, die es wissen wollten, da trat Alicia Vikander nämlich das Erbe von Angelina Jolie als Lara Croft – bekanntermaßen eine britische Adlige – in «Tomb Raider» an. Dieser Blockbuster steigerte nicht nur ihre Popularität von jetzt auf gleich massiv, sondern brachte ihr einmal mehr eine Menge Bewunderung ein, weil sie auch als Actionheldin, die sich so selten wie möglich doublen ließ und im Vorfeld der Dreharbeiten enorm viel trainiert hatte, auf ganzer Linie überzeugte – und aus einem durchschnittlichen einen sehenswerten Film machte. Die entscheidende Erkenntnis ist demnach folgende: Die Oscarpreisträgerin hat sich geradezu darauf spezialisiert, sich „Fremdes" regelrecht zu Eigen zu machen, Sprachen oder zumindest Akzente zu erlernen respektive zu perfektionieren und sich wieder und wieder neuen Herausforderungen zu stellen. Kein Hürde ist ihr offenbar zu hoch.
Die ausgewählten, jedoch nicht gerade wenigen japanischen Sätze, die die Darstellerin zu sagen hat, stehen somit gewissermaßen sinnbildlich für ihren enormen Ehrgeiz und die Akribie, die ihre Rollenvorbereitung auszeichnet. Dieses Perfektionismus bedarf es allein schon deshalb, weil dieser Charakter von dem Kontrast zwischen diesem scheinbar makellosen Äußerem und Lucys innerer Leere lebt. Ebendieser ist zudem maßgeblich verantwortlich für die Grundtonalität dieses „Arthouse-Thrillers“. Dieser ist nämlich selbst in seinen lautesten Momenten sehr ruhig und leise, und das Erzähltempo sehr gemächlich. Aus diesem Grund dürften ihn auch nicht wenige als langweilig empfinden, und das könnte man den Betreffenden auch nicht wirklich vorwerfen. Die für jedermann sichtbare Handlung ließe sich schnell zusammenfassen und ist ehrlicherweise auch nicht sonderlich spektakulär, all das aber, was sich im Innenleben der Protagonisten über die Dauer von 107 Minuten abspielt, und deswegen nur angedeutet werden kann, macht den Reiz der Romanadaption aus. Darauf muss man sich einlassen wollen, das sei an dieser Stelle ganz explizit gesagt.
Äußerst interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Westmoreland mit den beiden anderen – vermeintlich – zentralen Figuren verfährt: Newcomer Naoki Kobayashi, der sich in Japan vornehmlich als Tänzer und J-Pop-Künstler einen Namen gemacht hat, spielt Teiji. Viel erfährt man nicht über ihn und alles kann aus Spoiler-Gründen nicht verraten werden, allerdings ist das auch eigentlich gar nicht nötig. Im Grunde steckt das Wichtigste schon im ersten Treffen zwischen dem Japaner und Lucy Fly. Er fotografiert – unter anderem sie –, sie will daraufhin wissen, ob er dazu nicht eigentlich ihre Erlaubnis bräuchte, dann geht es noch ein paar Mal hin und her und „das Ende vom Lied": Die beiden gehen etwas Trinken und unterhalten sich. Ja, mehr nicht und das bleibt lange so, und das ist dramaturgisch auch genau das Richtige, weil es jeden Anflug einer vorgefertigten Klischeeszene schon im Keim erstickt. Beide wollen überdies „ehrlich“ zueinander sein, was dazu führt, dass er sie ab diesem Zeitpunkt mit ihrer Erlaubnis ablichten darf, und das viele, viele Male, bevor mehr passiert, wobei für ihn Sex nicht im Ansatz den Stellenwelt zu haben scheint wie das Einfangen ganz bestimmter Momente.
Und so geht es in dieser Beziehung auch in erster Linie um das, was in Teijis „Fotostudio“, das man von außen wohl nicht als ein ebensolches identifizieren würde, abspielt. Er fotografiert sie regelrecht exzessiv, jedoch hat das nichts Anzügliches – er hindert sie sogar einmal bewusst daran, ihr Oberteil auszuziehen. Dieser sich ständig wiederholende Prozess steht für sehr viel mehr; ihr Gespräch gibt den entscheiden Hinweis: Die zwei können nicht unbedingt erklären, warum sie sich von ihrer ersten Begegnung an zueinander hingezogen fühlen – zudem auf eine für Außenstehende wohl am ehesten mit „platonisch“ umschriebene Weise. Tatsächlich geht das, was die Treffen der beiden, immer bei ihm und nie bei ihr, ausmacht, viel tiefer, als es zunächst den Anschein hat. Sie wie auch er blenden aus unterschiedlichen Gründen ihre Vergangenheit aus, leben im Jetzt, in den einzelnen Fotos, die stets einen ganz bestimmten Augenblick festhalten, die unverfälschte Wahrheit quasi. Sie philosophieren sogar darüber, ob man mit jedem Foto nicht auch gewissermaßen ein Stück seiner Seele abgibt. In diesem Kontext erhält der Begriff „Seelenstriptease“ eine völlig neue Bedeutung, und das Studio wird praktisch zu einer Art Parallelwelt, wo die Zeit stillsteht, wo die zwei nur für sich sind. Die „Außenwelt“ interessiert sie lange nicht, immerhin haben sie einander.
Diese gemeinsamen Shootings kann man aber auch anders deuten und muss es irgendwann sogar: Fotograf und Model haben nicht grundlos immer einen bestimmten Abstand zueinander und somit sind selbst Porträtaufnahmen auch immer Ausdruck von Distanz. Auf Lucy gemünzt heißt das, dass selbst die Person, die sie offensichtlich so nahe an sich heranlässt, der sie an einem bestimmten Punkt gar etwas sehr Persönliches anvertraut, für sie ein Fremder bleibt, weil sie nicht den Schritt geht, den die Engländerin, die sonst alle auf Abstand hält, bereit ist, zu gehen. Und dies mündet spätestens dann in einem „Machtspiel“, als die von Riley Keough, ihres Zeichens Enkelin von Elvis und Star der ersten Staffel «The Girlfriend Experience», dargestellte Lily Bridges in das Leben des Paares tritt. Diese ist nämlich so ziemlich das komplette Gegenteil von Lucy Fly: lebensfroh, lustig, locker, gesellig, allerdings ebenfalls ziemlich „verpeilt“ und (allein schon aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse) unselbstständig. Daher steht das Kennenlernen der Frauen auch unter völlig anderen Vorzeichen als das von Teiji und Lucy, da der „Neuankömmling“ auf die Hilfe der „Alteingesessenen“ setzt, die wiederum widerwillig mitspielt. Allerdings sind drei bekanntlich einer zu viel. Das Spannende: Das Was, Lilys Verschwinden, ist von Anfang an ein offenes Geheimnis, die Fragen nach dem Wie und Wer sind es, die es zu klären gilt, jedoch, wie angesprochen, nur vordergründig.
Primär geht es um die Protagonistin und darum, inwiefern diese beiden Menschen, die neu in ihr Leben treten, „etwas mit ihr machen“. Ihr Leben, von dem man glauben könnte, es sei seit jeher sehr monoton und langweilig gewesen, ist nämlich durchzogen von einschneidenden Erlebnissen – in denen mehrmals „Tod“ ein Thema war. Mit jedem Informationsfetzen, den Zuschauerinnen und Zuschauer erhalten, verstehen sie etwas mehr die Leere in Lucy Flys Augen, verstehen, warum ihr Name kein „telling name“ ist, warum sie trotz ihrer Flucht in die Ferne nicht „abheben“ kann, und warum sie stattdessen viel eher ein „Earthquake Bird“, also ein „Erdbebenvogel“, ist. Dieser ist nämlich immer zu hören, sobald nichts mehr vibriert, scheppert, klirrt oder in die Brüche geht, dann wenn sich die Welt in Sekundenbruchteilen an einem ganz bestimmten Ort zu einer ganz bestimmten Zeit grundlegend verändert hat. Daher ist sie so kontrolliert, so genau, so ordentlich, so kühl, so analytisch und verschlossen. Jedes dieser Ereignisse hat ihre Realität, ihre Wirklichkeit erschüttert, ihr wieder und wieder die Luft zum Atmen genommen und sie mit der Frage nach dem Schuldigen zurückgelassen. Durch die Häufung solcher Situationen sucht sie die Schuld, wie sich herausstellt, immer zuerst bei sich und hat Probleme damit, jemandem zu vertrauen – ein Teufelskreis. Dadurch entwickelt sie eine sehr eigene Sicht auf Dinge, sieht oftmals nicht nach links oder rechts und weiß in ihren schwächsten Momenten nicht einmal, ob sie ihren eigenen Augen noch trauen kann.
Da aber die Augen der Spiegel zur Seele sind, wie zumindest der Volksmund behauptet, braucht es – und so schließt sich der Kreis –, um all das Aufgeführte durch einen Bildschirm hindurch transportieren zu können, eine Schauspielerin, die einer solch anspruchsvollen Aufgabe auch gewachsen ist. Die es beherrscht, mit Mimik und Gestik so viel mehr zu sagen, als im gesamten Film zu hören ist oder sich aus dem Handeln der Figuren ableiten lässt, und vor allem braucht es jemanden, der dem Publikum „fremd erscheinen" und sich als Person vollkommen zurücknehmen kann. Jemanden, der allerdings ebenfalls dazu in der Lage ist, die gesamte Emotionspalette zu bedienen und den Streamenden zu gegebener Zeit zu vermitteln, wann Lucy erstmals wirklich Hoffnung schöpft, wann es ihr endlich gelingt, einmal eine andere Perspektive einzunehmen und was nötig ist, um sich eventuell selbst vergeben zu können.
«Wo die Erde bebt» ist, wie angedeutet, sicher nicht der Film, den man schauen sollte, wenn man Action erwartet oder herzhaft lachen will, sondern eher einer, dem man eine Chance geben sollte, wenn einem nach etwas anderem, etwas Ungewöhnlichem oder einfach nach großer Schauspielkunst ist.
«Wo die Erde bebt» ist auf Netflix verfügbar.
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