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Warum uns das interessieren sollte? Nun, mich interessiert es, weil ich dieses Metier liebe – und weil ich so mein Geld verdiene. Und euch interessiert es … Äh, naja, sonst hättet ihr diesen Artikel wohl kaum aufgerufen. Außerdem ist Filmkritik Teil des kulturellen Diskurses, und in einer Epoche, in der wir uns öfter, länger und intensiver über Kulturangebote austauschen denn je, da Kulturangebote (zumeist) leichter denn je wahrzunehmen sind … Ja, da könnte es uns durchaus interessieren, wie es der alten Dame Filmkritik so geht. Nun dann … Darf ich zum Tänzchen bitten?
Teil I: Die Wachstumsschmerzen der Diversifikation
Oder: „Ich sag 'Brie', ihr sagt ,*vollkommenunverständlicheswutgekeife*'"
Es ist einer der seltsamsten und deprimierendsten Streitpunkte, der mir in meiner Zeit in diesem Beruf untergekommen ist: Leute außerhalb meiner Profession schmeißen sich bereitwillig in digitale Schützengräben, um die gezinkten Karten zu verteidigen, mit denen Meinesgleichen um eine Stelle pokert. Um weniger kryptisch daherzuschwafeln: Filme sind für alle da. Sie sind ein Massenmedium, und das ist überhaupt nicht als Schimpfwort zu verstehen. Aber: Obwohl etwa die Hälfte aller Menschen, die ins Kino gehen, sich dem weiblichen Geschlecht zuzählen (in vielen Märkten sogar mehr als die Hälfte), überwiegen im Geschäft der Filmkritik massiv die Männer. Und obwohl unsere Gesellschaft vielfältig ist, und somit auch das Kinopublikum, entstammen viele, sehr viele dieser Filmkritiker demselben kulturellen Hintergrund.
Als dieser Umstand vor einigen Monaten von Schauspielerin Brie Larson auf einer Veranstaltung der Non-Profit-Organisation „Women in Film" angesprochen wurde, und sie erklärte, zu hoffen, dass sich noch etwas bewegt und die Filmkritik künftig stärker die Vielfalt ihres Publikums abbildet, sowie die Vielfalt des Mediums, das sie thematisiert … Was ist da geschehen? Haben Leute gesagt: „Stimmt! Recht hat sie! Der Status quo ist langweilig und für die unter den Teppich gekehrten Stimmen unfair!"? Ach, wen verschaukeln wir da … Seither bekommen Menschen … okay, nahezu ausnahmslos Männer … beim Gedanken an Brie Larson Tobsuchtsanfälle, bilden sich ein, sie würde weiße Männer hassen, und kämpfen mit allem, was sie haben (also mit einen Internetzugang, einem vulgären Vokabular und einer Feststelltaste), dafür, dass in der Filmkritik alles so bleiben soll, wie es ist.
Ähm, Leute: Ich will eure Hilfe nicht. Kein Kritiker, den ich kenne, will eure Hilfe. Regt euch künftig lieber über andere Dinge auf, etwa darüber, dass eure Enkel extrem leiden werden, wenn wir nicht bald Vorkehrungen treffen, dass auch in einigen Jahrzehnten menschenwürdige Klimabedingungen vorherrschen. Oder meinetwegen auch darüber, dass zwei Sixpacks Einweg-Cola meistens günstiger sind als ein Zwölferkasten Mehrweg-Cola. Aber, bitte, schreit nicht als Nicht-Filmkritiker in den Äther, dass Brie Larsons Bemerkung scheiße ist und niemand Bob Ichweißnichtwieichandenjobgekommenbinaberichfindgratisfilmegeil durch eine Frau zu ersetzen hat.
Es ist wirklich bescheuert: Leute, die nicht betroffen sind, schreien und heulen und schimpfen laut, aber die „Betroffenen" zucken mit den Schultern oder stellen sich aktiv auf Brie Larsons Seite. Filmkritik ist ein Metier mit so großer Nachfrage und so großen Möglichkeiten, so schnell muss niemand gefeuert werden, um Platz für eine repräsentativere Aufstellung zu schaffen. Und selbst wenn: Der Filmkritiker an sich ist extrem von sich selber überzeugt. Kein Typ, der dafür bezahlt wird, seine Gedanken festzuhalten, glaubt: „Scheiße, meine Profession soll repräsentativer werden. Ich bin Teil der überrepräsentierten Gruppe. Fuck, ich werde sicher durch eine Frau verdrängt!" Natürlich denkt der Filmkritiker an sich: „Tja, dann werden meine untalentierten Kollegen wohl demnächst ausgetauscht." Und das ist auch gut so. Weil das so muss. Pa-ram-tada-damm!
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Ganz, ganz, ganz langsam ändert sich ja auch schon was. Schleichend kommen Redaktionen auf den Gedanken, nicht nur denselben Schlag Männer einzustellen, sondern zu diversifizieren. Und durch die Möglichkeiten, sich selber eine Plattform aufzubauen, finden auch ohne redaktionelle Hilfe andere Stimmen (weibliche, Stimmen mit anderen kulturellen oder soziodemografischen Hintergründen) ihren Weg in die Filmkritik. Das ist eine gute Entwicklung, die sich wahrscheinlich (vor allem: hoffentlich) im nächsten Jahrzehnt fortsetzt. Und, an alle Brie-Larson-Hasser-weil-die-ja-soooo-gemein-gegenüber-Männern-war: Ihr müsst keine Träne für kartoffelige Männer vergießen. Sie werden weiterhin in der Filmkritik Gehör finden – redet euch nicht ein, sie würden mit einem Fingerschnippen völlig verschwinden. Im Idealfall verschwinden halt nur die faulen Kollegen, die den Job eh mies finden und nur für den Gratiskaffee in Pressevorstellungen gehen. Und wer würde denen schon hinterhertrauern?
Es gibt 11 Kommentare zum Artikel
02.12.2019 11:09 Uhr 1
02.12.2019 13:51 Uhr 2
Es mag auch sein, dass der Content diverser wird. Aber die großen Studios machen das mit den großen Marken nur noch auf die sichere, PC, Schiene. Hat Blackspotation früher radikal die Charaktere getauscht gibt es eine gemischtrassige Truppe an harmlosen Abziehbildchen. Gerne auch verschiedentlich Geschlechtlich. Und möglichst so angelegt, dass es auch auf dem Asiatischen Markt funktioniert. Gerne auch mit zusätzlichen Szenen für 3D oder Asien. Die Filme sollen vor allem Kasse machen und ein durchschnittliches Publikum unterhalten - ohne zu polarisieren. Daher kann ich mir die meisten Filmkritiken sparen. Man kann nen Fast & Furiuos 29 schauen, oder auch nicht. Schalt ich halt um/aus.
02.12.2019 15:00 Uhr 3
02.12.2019 15:49 Uhr 4
Nein, ich habe keine eigene Zeitrechnung. Dass die 1980er von 1980 bis 1989 gingen, die 1990er von 1990 bis 1999 (wo man ja auch den Jahrtausendwechsel gefeiert hat) und dass die 2010er von 2010 bis 2019 gehen, ist eigentlich ziemlich handelsüblich.
02.12.2019 16:30 Uhr 5
02.12.2019 16:34 Uhr 6
Nujanu - die 2000er haben am 01.01.2000 begonnen - am 31.12.2009 ist dann ein Jahrzehnt nun mal um
Same mit den 2010ern...2020 wäre das elfte Jahr, und somit definitiv zu viel für ein JahrZEHNt.
02.12.2019 16:53 Uhr 7
Aber im heutigen Umgang beginnen demnächst die Zwanzigerjahre dieses Jahrhunderts, die gehen halt von 0 bis 9. Da kann man sich jetzt streiten - oder auch nicht.
02.12.2019 17:16 Uhr 8
Das ist die Klugscheißervariante, auf die ich im Artikel angespielt habe. Denn auch wenn das mir bewusst ist (sowie wohl sehr vielen, die dennoch nun mit Dekadenrückblicken antanzen), so ist es im allgemeinen Sprachgebrauch was ungelenk, wenn die 2010er-Jahre im Jahr 2011 beginnen und 2020 enden.
Man könnte sich auf wissenschaftliche und zeitgeistliche Zählweisen einigen.
03.12.2019 16:09 Uhr 9
Welche Rolle hat Brie Larson in der Fast & Furious Reihe? Ich kann mich nicht an sie erinnern?
04.12.2019 00:14 Uhr 10
„Leute außerhalb meiner Profession schmeißen sich bereitwillig in digitale Schützengräben, um die gezinkten Karten zu verteidigen, mit denen Meinesgleichen um eine Stelle pokert. “
Man schmeißt sich weg oder man schmeißt sich vor etwas, vielleicht vor einen anrollenden Panzer zum Beispiel, aber einen Schützengraben schmeißt man sich eher nicht.
Nun gut, die leute außerhalb Sids Profession hocken also letztlich mit Knarre in einem digitalen Schützengraben, um dann gezinkte Karten zu verteidigen – ein herrlich schiefes Gesamt-Bild aus zwei Metaphern, wie sie unterschiedlicher gar nicht sein können. Hm, mit gezinkten Karten pokert Sid also um seinen Job. Will offenbar sagen, er kann nicht so reden und argumentieren, wie er eigentlich will – oder wie?
Tja, die wilden Jahre des Feuilletons sind weitgehend vorbei. Die wirksamste Kritik wird mit dem Siegeszug von Social media & Co mittlerweile in erster Linie von den Konsumenten selbst gemacht, das gilt wohl mittlerweile auch für den Film, schätze ich. Was waren das z.B. in der Literatur noch für Zeiten, als ein Kenner, und das war er wirklich, wie MRR im „Literarischen Quartett“ ein Werk anpries – und es zu gigantischen Verkaufszahlen kam … Sic transit gloria mundi.