Liebe Leser,
der Silvestertag hat in jedem Jahr eine ganz besondere Magie. Einige von uns nutzen die Zeit des Wartens auf die Momente des Jahreswechsels, um noch einmal in sich zu gehen, und auf die zurückliegenden 365 Tage zurückzublicken. Andere schauen vor allem voraus. Es startet nicht nur ein neues Jahr, sondern gleich ein neues Jahrzehnt. Wo werde ich, wo werden wir am Ende dieses neuen Jahrzehnts stehen? Was will ich, was wollen wir alle zusammen in dieser neuen Dekade erleben und meistern?
Deutschland hat sich auch in diesem Jahr wieder als Ort des Wohlstandes, teils sogar als Ort von wahrem Luxus erwiesen. Das wird vielleicht heutzutage viel zu wenig wahrgenommen. Unsere Fernsehindustrie ist eine der besten – nicht nur in Europa, sondern sogar weltweit. Natürlich hören wir alle immer wieder von den großen kreativen Leistungen von Produzenten, etwa in Israel, in Spanien, zuletzt immer mehr auch von türkischen Firmen. Dass es in all diesen Ländern aber genauso eine Vielzahl an Flops gibt, bleibt da manchmal verborgen. Deutsche Produzenten, deutsche Sender und deutsche Schauspieler brauchen sich wahrlich nicht zu verstecken.
2019 war unter dem Strich ein Jahr, das der Branche guttat. Es hat sich etwas in die richtige Richtung bewegt: «The Masked Singer» hat einen Trend angestoßen, der vor einem Jahr noch nicht für möglich gehalten wurde. Interessant ist dabei vor allem die Tatsache, dass die Masken-Show im Original selbst gar kein Live-Fernsehen ist. In Südkorea läuft die Sendung im wöchentlichen Rhythmus, ist aber vorab produziert. Auch FOX in den USA sendet on Tape. Erst ProSieben kam auf die Idee, aus dem Format ein echtes Live-Event zu gestalten. Es ist wohl unumstritten, dass der Siegeszug von Streamingplattformen nicht mehr aufzuhalten sein wird. Der technische Fortschritt macht es möglich, das jeweilige Lieblingsprogramm absolut flexibel zu konsumieren – und das ist auch gut so. Das klassische lineare Fernsehen muss darauf seine eigenen Antworten finden – und wird künftig wohl vor allem noch bei eventisierten Formaten punkten können. 2020 soll «Wetten, dass..?» – vorerst einmalig – zurückkehren. Hohe Quoten dürften hier gewiss sein. RTL plant eine Live-OP am offenen Herzen und ProSieben bringt mit den maskierten Sängern die Show zurück, die alles erst ins Rollen brachte.
Das Format, das am meisten Spaß gemacht hat, kam in diesem Jahr also nicht von Netflix, nicht von Amazon, nicht von YouTube, sondern von ProSieben. Ob sich Netflix und die anderen Dienste 2019 so sehr weiterentwickelt haben, steht durchaus zur Debatte. Gerade erstere Firma fiel vor allem dadurch auf, Sendungen immer weniger Zeit zu geben und immer stärker auch auf Abrufzahlen zu schauen. Das bekam etwa die schon nach einer Staffel abgesetzte Serie «Skylines» zu spüren. International lasten Schulden auf dem Unternehmen und der Start von Disney+ hat die Konkurrenzsituation nochmal verschärft. NBCUniversal zieht nun im Frühjahr mit einem Dienst namens Peacock nach, HBO Max soll (wenn auch nicht in Deutschland) weiteren Schwung in den Markt bringen. Verständlich, dass sich die alteingesessenen Anbieter wie Netflix oder Amazon breiter aufstellen und auch in Formate abseits der Fiction investieren. Netflix etwa holt Frank Elstners YouTube-Talk zu sich.
Vor zehn Jahren, als der letzte Wechsel eines Jahrzehnts anstand, war von alldem noch keine Rede. Der technische Fortschritt allein in diesem doch recht kurzen Zeitraum ist enorm. Vor zehn Jahren etwa war es Facebook, das gerade aus den Kinderschuhen gewachsen war. Instagram startete erst im Herbst 2010 – andere Plattformen wie TikTok waren bei Weitem noch nicht geboren. All diese Dienste haben uns in diesem Jahrzehnt stärker miteinander vernetzt – mit allen negativen Seiten, die das mit sich bringt.
Heute kann und darf jeder ein Sender sein und seine Parolen in die Welt hinaussprechen. Was früher, man möchte Gott sei Dank sagen, gelernten und gebildeten Personen vorbehalten war, ist nun jedem möglich. Und es ist ein Problem, wenn diejenigen laut sind, die in Ermangelung an Wissen eher leise sein sollten. Und es ist selbst dann ein Problem, wenn die, die Unsinn verbreiten, es nicht einmal böse meinen. Die Gesellschaft hat noch kein Rezept gefunden, um gegen den offensichtlichen Hass im Netz vorzugehen. Soziale Medien sind ein Spielplatz für Intoleranz, radikale Äußerungen und falsche Behauptungen. Das alles ist kein neues Phänomen, nur fiel es früher am Stammtisch eben weit weniger auf.
Vielleicht werden wir am Ende des kommenden Jahrzehnts sagen, dass alles wieder etwas leiser geworden ist. Vielleicht leben wir am Ende des kommenden Jahrzehnts anders, als wir es heute tun. Weil sich die Technik verändert hat. Weil sich unsere Umwelt und das Klima verändert hat. Und mit alldem auch unsere Mediennutzung. Es ist zu hoffen, dass auch in zehn Jahren noch das Gute überwiegt. Dass es gelingt, das Verbreiten von Angst und Furcht einzudämmen. Dass nicht die am lautesten sind, die alles per se schlecht finden. Ohne Frage: Die (Medien-)Welt wandelt sich so schnell und arg, dass einem schon mal schwindlig werden kann. Am 31. Dezember 2029 werden wir es mit Technik zu tun haben, von der heute noch niemand eine Ahnung hat. Wir werden über Projekte nicht mehr sprechen, die heute noch zu unserem Alltag gehören. Und das ist gut so. Alles andere wäre schließlich Stillstand.
Schön aber wäre es, wenn es uns allen im kommenden Jahrzehnt ein ums andere Mal öfter gelingen würde, innezuhalten. Stillzustehen. Zu reflektieren. Zu tolerieren und ein Bewusstsein für das zu schaffen, was Deutschland und Europa schafft und schaffen kann. Im Fernsehen wie außerhalb dessen.
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