Seite 2
Und deshalb ist es nur logisch, dass die Treuesten der Treuen sich sehr schwer damit tun, in ihrem einstigen Liebling plötzlich nicht mehr den positiv konnotierten Helden der Geschichte zu sehen – zumal sich alles um Joe dreht. An diesem Umstand lässt sich im Übrigen gut zeigen, wie sehr das Publikum es gewohnt ist, sich auf die Seite des Protagonisten zu schlagen, auf die Seite desjenigen also, der (normalerweise) im Recht ist und den es zu unterstützen gilt. Und Voiceover sind zudem ebenfalls in den Köpfen der meisten für Märchenprinzen oder „Nachwuchs-Aschenputtel“ reserviert, da dieses Gestaltungsmittel bevorzugt in romantischen Komödien oder in Telenovelas zum Einsatz kommt.
All das wiederum führt dazu, dass die kreativ Verantwortlichen ihren „Antihelden“ zum Ende hin schlimme Dinge so explizit wie möglich tun und sagen lassen, um den Zuschauerinnen und Zuschauern in aller Deutlichkeit vor Augen zu führen, wie bereitwillig sie sich haben manipulieren lassen. Es kommt zu einem echten Bruch, zu einem Moment, der diejenigen, die dieser Szenerie beiwohnen, zwingt, „aufzuwachen“. Und obwohl dieser Moment in der Vorlage theoretisch ebenfalls existiert, hatte er dort jedoch aus oben genannten Gründen bei Weitem nicht denselben Effekt. Musste er aber auch nicht, da – wie beschrieben – sich schon nach der Lektüre der ersten Seiten kaum jemand mehr finden wird, der mit Joe Goldberg sympathisiert.
In beiden Fällen ist allerdings nachvollziehbar, warum die Rezipientinnen und Rezipienten wissen wollen, wie es mit dem leidenschaftlich gerne bedeutende Literaten Zitierenden weitergeht, obwohl das jeweilige Ende (ob in Worten oder bewegten Bildern festgehalten) ein sehr stimmiges offenes gewesen wäre. Doch Erfolg und Stillstand haben bekanntermaßen noch nie viel miteinander zu tun gehabt, weswegen es auch niemanden sonderlich verwundert haben dürfte, dass Autorin Kepnes bereits 2016 mit „Hidden Bodies – Du wirst mich finden“ nachlegte und damit gleichzeitig der vor wenigen Tagen angelaufenen zweiten Season den Weg ebnete. Und mittlerweile wurde darüber hinaus noch bestätigt, dass es definitiv einen dritten sowie einen vierten Band geben wird beziehungsweise hat die Schriftstellerin ihren dritten Ausflug in die Welt des etwas anderen Killers sogar schon beendet. Und wer um den Verlauf des zweiten weiß, könnte sicher aus dem Stehgreif viele Argumente dafür nennen, weshalb sich auch dieser lohnen könnte, jedoch bestimmt mindestens genauso viele, warum es immer komplizierter werden dürfte, das Grundkonzept weiterhin überzeugend mit Leben zu füllen, ohne sich einerseits zu weit vom Kern des Ganzen zu entfernen oder andererseits sich zu sehr zu wiederholen.
Aber wieso das Feld von hinten aufrollen, wenn es sich gerade zu Beginn entscheidet, ob man abermals gewillt ist, in Joseph Goldbergs Psyche einzutauchen. Um nicht redundant zu werden und weil im Zentrum dieser Besprechung selbstverständlich die Serienumsetzung, die diesmal wesentlich freier mit dem Ausgangsmaterial umgeht, stehen soll, wird von nun an aber nur noch in Ausnahmefällen auf die Buchversion verwiesen – zumal ohnehin jede Adaption in der Lage sein muss, für sich zu stehen und die Mehrheit der Streamenden den Roman höchstwahrscheinlich nicht gelesen hat. Und weil es über diese Staffel wahrlich genug zu sagen gibt – selbst dann, wenn man auf eine Menge verzichtet, weil diverse Spoiler in diesem Fall das (erstmalige) Sehvergnügen wirklich schmälern würden. Denn Joe treibt nun nicht mehr in New York, sondern inzwischen in Los Angeles sein Unwesen, und zwar als Will Bettelheim. Diese wenigen Fakten genügen bereits, um wieder komplett auf „You-Modus“ zu schalten und sich – und damit eigentlich dem Format – zahlreiche Fragen zu stellen: Wieso ausgerechnet die „Stadt der Engel“? Wie kam der Mann aus Brooklyn an den neuen Namen? Hat er aus seinen Fehlern gelernt? Wird man ihm auf die Spur kommen und natürlich: Wird der falsche Will sich wieder verlieben?
Abermals findet die Produktion auf nahezu alle plausible Antworten – zugegeben, wenn man hin und wieder etwas länger über bestimmte Entwicklungen und deren Zustandekommen nachdenkt, kommt einem womöglich für einen kurzen Moment ein Wort wie „aberwitzig“ oder „absurd“ in den Sinn, nur: Das war von Anfang an der Deal. Von der allerersten Episode an werden Zuseherinnen und Zuseher in schöner Regelmäßigkeit mit Situationen konfrontiert, die sich in ihrer Skurrilität überbieten. Dem zweiten 10-Folgen-Paket gelingt es allerdings nun endgültig, dass man eher geneigt ist, in diesen Augenblicken zu dem Schluss zu kommen, dass das Leben tatsächlich die verrücktesten Geschichten schreibt – solche, von denen man am ehesten denken würde, dass sie sich niemals so zugetragen haben können und die sich deswegen einfach jemand ausgedacht haben muss. Und das ist ohne jede Frage eine beachtliche Leistung und hat unter anderem viel mit der Erzählweise sowie dem „Pacing“ zu tun. Denn das Einstreuen von Informationen, die in der Regel erst später wirklich relevant werden, hat im Vergleich zur ersten Season deutlich zugenommen. Obwohl dieser Vorgang einmal expliziter und einmal impliziter vonstattengeht, ist es den Fans theoretisch konsequent möglich, (beinahe) alle Hinweise, die Rückschlüsse auf den weiteren Verlauf der Handlung zulassen, zu sammeln und zu deuten. Das liegt hauptsächlich daran, dass das Erzähltempo gleichbleibend und – bis auf wenige (gewollte) Ausnahmen – nie von Hektik geprägt ist, sondern zumeist von einer gewissen Ruhe.
Diese Tatsache lässt sich in erster Linie auf Joes neue Rolle zurückführen: Aus dem „eigenwilligen“ Jäger ist ein Gejagter geworden. Daran, dass er in seinem Kopf pausenlos mehrere Szenarien durchspielt, ist man seit dem Piloten gewöhnt. Damals ging es jedoch vornehmlich um seine nächsten Schritte in Bezug auf Beck oder auf die (endgültige) Beseitigung der sich dabei für ihn ergebenden Probleme. Vielleicht auch ein wenig darum, nicht erwischt zu werden, der New Yorker vertraute in dieser Hinsicht aber im Grunde genommen sehr auf seine Fähigkeiten und seine – in seinen Augen – an sich lückenlosen Pläne. In L.A. sieht das Ganze hingegen etwas anders aus. Er ist etwa mit der Gegend nicht vertraut und kennt anfangs niemanden. Wer nun einwendet, dass Letzteres für einen Einzelgänger, wie „Will“ es immer schon war, nicht besonders wichtig ist, verkennt, dass er stets auch vertraute Gesichter – mehrheitlich, ohne dass sie es wissen – für seine Zwecke nutzt – beispielsweise, um sich ein Alibi zu verschaffen. In seiner neuen Heimat allerdings muss er quasi komplett bei null beginnen. Womit selbst der sich mit Vorliebe als vorausschauender Stratege Feiernde dagegen nicht gerechnet haben dürfte, ist, dass er – vermutlich erstmals überhaupt – mehrere Leute zeitgleich Teil seines Lebens werden lässt.
Lesen Sie auf der nächsten Seite, worin der Grundkonflikt in Staffel 2 von «You – Du wirst mich lieben» besteht.
Es gibt 2 Kommentare zum Artikel
04.01.2020 13:17 Uhr 1
04.01.2020 14:23 Uhr 2