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Doch des einen Freud ist des anderen Leid: Dadurch, dass Kriminalgeschichten im Fernsehen derart beliebt sind, wird das Genre im TV auch sehr stark bedient. Was bedeutet, dass Krimis es im Kino schwer haben, denken sich doch so manche Fernsehende: "Wieso für etwas zusätzlich bezahlen, wenn ich auch zu Hause bleiben und etwas ähnliches sehen kann?!" Aber es gibt durchaus Unterschiede zwischen dem alltäglichen Fernsehkrimi und Krimis mit Leinwandpotential …
Eine Krimi-Stilrichtung, die auch in Deutschland im Kino funktioniert, ist der Whodunit im Agatha-Christie-Stil. Egal, ob es sich nun um Adaptionen von Werken der einflussreichen britischen Autorin handelt oder um Filme, die Christie kommentieren oder in ihrem Stil gehalten sind: Diese Produktionen haben große Ähnlichkeiten mit dem klassischen deutschen TV-Krimi, doch der kleine, sehr entscheidende Unterschied existiert.
So werden nicht nach und nach Verdächtige gesucht, woraufhin durch Verhöre und Indiziensuche abgewogen wird, wer denn nun schuldig ist: Zumindest in den ganz großen Christie-Klassikern sowie in den meisten an Christie angelehnten Filmen (wie aktuell «Knives Out») steht praktisch von Anfang an eine Gruppe an Verdächtigen fest und es gilt, den Schuldigen oder die Schuldige(n) auszusieben. Klassiker wie «Mord im Orient-Express» oder «Das krumme Haus» beschränken zudem den Schauplatz: Es wird nicht durch eine Region gekurvt, um an verschiedenen Orten Verhörsituationen zu erzwingen. Stattdessen wird ein zentraler, opulenter Schauplatz zu einem tragenden Element des Films, das Atmosphäre schafft und Schauwerte gestattet.
Zudem wird in guten Kinokrimis die Gruppe der Verdächtigen mit mehr erzählerischem Gewicht geschrieben: Ein «Tatort» etwa handelt entweder primär von der Tätersuche oder nutzt diese als Hintergrundelement, während die Geschichte eines Verdächtigen ausgeleuchtet wird. Für die weiteren Figuren ist der alltägliche deutsche Fernsehkrimi oft nur eine kleine Unangenehmlichkeit in ihrem Leben. Ein Krimi im Christie-Stil hingegen bedeutet im Normalfall, dass der Mord und die anschließende Untersuchung für alle handelnden Figuren ein Wendemoment in ihrem Leben ist – das vergrößert die Fallhöhe.
Aber es gibt auch Leinwandkrimis, die ohne Christie-Formel bestens funktionieren – das sind oft die Krimis, die tonal so weit vom TV-Krimi entfernt sind, dass sie nicht zwingend als Kriminalfilm wahrgenommen werden. Man denke an «Sieben»: Morde geschehen, ein Ermittlerduo macht sich auf die Suche nach dem Täter. Oberflächlich könnte das sonntags im Ersten oder samstags im ZDF laufen. Und auch die Erzählstruktur ist gar nicht mal so fern vom TV-Krimi. Doch David Finchers Regieführung, die eine dreckige, widerliche, kränkliche Welt zeichnet, und die ähnlich schmutzig-intensiven Dialoge führen dazu, dass «Sieben» nicht als Krimi, sondern als Thriller wahrgenommen wird. Auch die Millennium-Trilogie hat sich durch eine gesteigerte Drastik Leinwandtauglichkeit erarbeitet.
Doch schlussendlich ist die Trennung zwischen Fernsehkrimi und Kinomaterial arbiträr – gibt es doch unzählige TV-Adaptionen Christies, die den Kinoadaptionen in Nichts nachstehen, und mit den Eberhofer-Filmen eine sehr erfolgreiche deutsche Kinoreihe, die strukturell und tonal genauso gut eine Schmunzelkrimi-Fernsehreihe sein könnte. Zynische Stimmen würden daher sagen: Am Ende geht’s darum, welche Kino-Krimis sich dem potentiellen Publikum überzeugender verkaufen, im Marketing besser suggerieren "Mich musst du im Kino schauen". Eine grantige Sicht der Dinge, aber womöglich steckt ein Körnchen Wahrheit darin …
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