Popcorn & Rollenwechsel

Wie «Marriage Story» das Sympathie-o-meter in Waage hält

von   |  3 Kommentare

Eine Spoiler-Analyse: Noah Baumbachs Netflix-Scheidungsdrama «Marriage Story» behält zahlreiche ständig in Bewegung befindliche Teile im Blick, um die Trennung seiner Hauptfiguren ausgewogen zu gestalten.

Filmfacts «Marriage Story»

  • Regie und Drehbuch: Noah Baumbach
  • Produktion: David Heyman, Noah Baumbach
  • Cast: Scarlett Johansson, Adam Driver, Laura Dern, Alan Alda, Ray Liotta, Julie Hagerty, Merritt Wever
  • Musik: Randy Newman
  • Kamera: Robbie Ryan
  • Schnitt: Jennifer Lame
Seit der Video-on-Demand-Dienst Netflix Anfang Dezember Noah Baumbachs Scheidungsdrama «Marriage Story» veröffentlicht hat, wird unter Filmfans eifrig über die 18-Millionen-Dollar-Produktion diskutiert. Denn auf jede Lobeshymne kommt gefühlt auch eine grantige Kritik, die findet, dass «Marriage Story» zu sehr auf der Seite seiner männlichen Hauptfigur Charlie sei. Aber auf jede dieser Kritiken kommt auch eine pampige Gegenstimme, dass sich «Marriage Story» viel zu sehr auf die Seite der weiblichen Hauptfigur Nicole schlagen würde. Und allein schon, dass Leute genauso sehr darüber zetern, «Marriage Story» sei Pro-Charlie, als auch darüber, der Film sei Pro-Nicole, suggeriert sehr deutlich, dass sich Noah Baumbach in seinem autobiografisch angehauchtem Drama offenbar einige Gedanken gemacht hat, wie er beide Parteien in dieser filmischen Scheidung gerecht behandeln könnte …


Allein schon die Struktur von «Marriage Story» versucht, das Publikum in Richtung einer ausgewogenen Sicht auf Charlie und Nicole zu lenken – dass dies nicht bei jedem gelingt, liegt bei einem persönlichen Stoff über Liebe, Trennung und Schuldzuweisung in der Natur der Sache. Dennoch ist es faszinierend, wie sehr Baumbachs Skript eine Balance in Sachen Sympathie und Antipathie wenigstens ermöglicht. So tendiert man in figurenzentrischen Erzählungen dazu, früh Sympathien zu verteilen. Das hat auch Greta Gerwig durchschaut, die ihre «Little Women»-Adaption daher bewusst anders strukturiert hat als ihre Romanvorlage.

Das «Marriage Story» damit beginnt, dass Charlie alles aufzählt, was er an seiner Noch-Frau Nicole liebt, ist daher essentiell: Wir beginnen den Film damit, die besten, liebenswürdigsten Seiten Nicoles und ihre schönen Macken kennenzulernen. Sie bekommt den frühen Sympathiebonus, nicht Charlie, der erst danach seine Montage an liebenswürdigen Charakterzügen und Angewohnheiten erhält. Das ist eine wichtige strukturelle Entscheidung, da der Mittelteil des Films tendenziell eher aus Charlies Perspektive aufgezogen wird (das Publikum wird, genauso wie er, von einigen Entscheidungen Nicoles überrascht). Würde «Marriage Story» mit einem "Das alles an Charlie ist toll"-Monolog beginnen, wäre dies völlig unausgewogen.

Doch «Marriage Story» beginnt mit einem Sympathie-Vorsprung für Nicole, der sich auch wenige Minuten später vergrößert, wenn Baumbach die Stunden nach einer letzten gemeinsamen Vorführung des Regisseur/Darstellerin-Paares zeigt: Früh wird die Saat des Verdachts gesät, Charlie hätte was mit seiner Inspizientin am laufen, da sie sehr vertraut miteinander tuscheln. Charlie wird nahezu unmittelbar danach als abgehoben skizziert, da er sich abfällig gegenüber Fernsehserien äußert. Und darüber hinaus ist er nach einem langen, aber bisher friedlichen Tag unruhig, bis er Nicole für ihr Schauspiel wenige Stunden zuvor kritisiert, obwohl es nun wirklich keine Rolle mehr spielt, weil sie sich ja eh aus Charlies Schauspieltruppe verabschiedet hat.

Diesen Sympathievorsprung benötigt Nicole, weil mit ihrem Umzug von New York nach Los Angeles die Geschichte vorerst in Richtung von Charlies Fokus übergeht. Er wird von Nicoles Entschluss überrumpelt, dass die vermeintlich klein gehaltene Scheidung doch vor Gericht geht und Nicole sich eine extrem ausgebuffte Spitzenanwältin geholt hat. Charlie und das Publikum werden damit überrascht, dass Nicole neue Halloween-Pläne für den gemeinsamen Sohn Henry geschmiedet hat und dass sie nahezu jeden Top-Scheidungsanwalt der Stadt konsultierte und Charlie somit bei der Wahl eines eigenen Anwalts in die Ecke gedrängt hat.

Somit wird «Marriage Story» zwischenzeitlich zur "Charlie wird in einen Scheidungskrieg gezerrt und verliert jegliche Chance, die Bindung zu seinem Sohn aufrecht zu halten"-Geschichte, was den etwas unsympathischer aus dem Startblock gelangten Protagonistin mit Nicole gleichziehen lässt. Ist das erst einmal geschehen, wird «Marriage Story» zu einem elegant erzählten Schlagabtausch der sympathischen und unsympathischen Entscheidungen, was obendrein dadurch an Komplexität gewinnt, dass immer wieder sympathische Wendungen zugleich unvernünftig sind oder umgekehrt.

So vertraut sich Charlie zwischenzeitlich einem sehr menschlichen, freundlichen Anwalt an, der aber auch eine Nulpe ist. Nicoles abgezockte Kämpferin von einer Scheidungsanwältin (beeindruckend verkörpert von Laura Dern) ist hingegen, selbst wenn sie wiederholt über die Stränge schlägt, auch sehr vernünftig, da sie Dinge erkennt, die Charlie völlig übersieht und selbst Nicole nur erahnt. Etwa, wie sehr sich Nicole in früheren Ehejahren hat unterbuttern lassen, oder dass Charlie zwar ein sehr lieber, aber auch ein sehr planloser Vater ist. Und Laura Dern legt ihre Rolle noch immer wärmer an als Ray Liotta in der Rolle von Charlies bissigem Anwalt rüber kommt.



Eine wichtige Schlüsselszene spielt sich in einem Konferenzraum ab, wenn Charlie und Nicole sich mit ihren Anwälten treffen, die zunächst entspannte Stimmung im Raum kippt und die Anwälte plötzlich ganz ruhig und freundlich zur Essensplanung übergehen. Nicht nur, dass dieser Bruch eines der vielen Beispiele ist, wie Baumbach «Marriage Story» zwischendurch auflockert (und so den Rest Zuneigung zwischen den beiden Figuren spürbar macht), er zeigt auch auf, dass das harte "Geschäft" Scheidung nicht auf die betroffenen Menschen Einfluss nehmen muss.

Darüber hinaus hilft Nicole einem unentschlossenen Charlie bei der Bestellung. Es symbolisiert, wie die sich früher unterordnende Nicole nun selber Dinge in die Hand nimmt, wie es auch verdeutlicht, wie eng Charlie und Nicole miteinander waren: Sein Gegenüber so sehr zu kennen, dass man genau weiß, was es will, ist eine schöne Sache – und dass Nicole dem Impuls nachgibt, ihr Wissen über Charlie zu nutzen und ihm zu helfen, obwohl sie sich gerade im Scheidungskrieg befinden, gibt ihr nach einer Phase der Pro-Charlie-Szenen Sympathie zurück. Zugleich ist diese Szene aber auch ein Glied in einer Argumentationskette darüber, wie fahrig und verkrampft Charlie ist, wenn nicht alles nach seinem Plan verläuft, während sich Nicole anpassungsfähiger zeigt. Das kulminiert gegen Schluss des Films bitterkomisch, wenn Charlie sich vor einer Gutachterin total blamiert.

Dieses ständige Austarieren zwischen Nicole und Charlie wird selbstredend auch durch die berührenden, starken Darbietungen von Adam Driver und Scarlett Johansson vorangetrieben – mal sagt er eine schnippische Bemerkung einen Deut zu scharf, mal schaut sie über Gebührt verachtend. Und an anderer Stelle lassen Drivers kummervolle Körperhaltung oder Johanssons feuchte Augen alles vergessen, was man ihren Figuren kurz zuvor noch vorgeworfen hätte. Des Weiteren lässt Noah Baumbach durch seine Regieführung selbst in freudlosen Szenen, wie in einer Gerichtsverhandlung, die Bindung zwischen Nicole und Charlie durchscheinen: In einem schmalen, nicht aber beengenden Bildformat gedreht, hat «Marriage Story» etwas wohlig-intensives an sich, und Baumbach lässt beide Figuren so oft, wie er kann, gemeinsam im Bild auftauchen, mehrfach verbindet er sie sogar durch Sichtlinien, selbst wenn sie gerade unglücklich dreinblicken.

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«Marriage Story» endet letztlich mit einer längeren Passage, die zeigt, welch heimeliges Leben Nicole sich nun aufgebaut hat – ein versöhnlicher Schluss, da wir auch Henry im Glück sehen und somit erkennen, dass das Ziel, die Trennung nicht zu Henrys Ungunsten zu vollziehen, erreicht wurde. Doch es ist ein leicht fremd in diesem Glück wirkender, sich beruflich neu orientierender Charlie, der die ruhige, rührende Schlussnote mit Henry erhält – und so ist die Balance erreicht. Nicole bekommt den Anfang, beißende Enthüllungen über früheres Unglück in der Ehe und ein größeres Kuchenstück vom Schluss, doch Charlie ist es vergönnt, sich beim Publikum hochzuarbeiten (was ein lang anhaltendes Gefühl in der Filmrezeption ist) und er prägt den letzten Eindruck, den wir von «Marriage Story» haben.

Was bleibt, ist eine Geschichte, die vom Verlust des Eheglücks berichtet, aber in Wahrheit vom Bewahren dessen handelt, was nach einer verwirkten Liebe noch zu bewahren ist. Denn bei allen Tränen und Beschimpfungen sind sich Nicole und Charlie am Ende des Tages löblich grün ..

«Marriage Story» ist via Netflix abrufbar.

Kurz-URL: qmde.de/115721
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Es gibt 3 Kommentare zum Artikel
Nr27
09.02.2020 15:52 Uhr 1
Ich stimme zu, daß es insgesamt Baumbach sehr gut gelungen ist, die Balance zu halten. Ja, Charlie trägt wohl mehr Schuld am Scheitern der Ehe und Nicole trägt mehr Schuld am zwischenzeitlichen Scheidungskrieg, aber ich konnte letztlich jederzeit beide sehr gut verstehen - selbst die dummen oder selbstsüchtigen Aktionen.



Widersprechen möchte ich allerdings in der (nebensächlichen) Einschätzung des von Alan Alda verkörperten Anwalts als "Nulpe". Für mich kam der nicht als unfähig rüber, sondern einfach als ein den Kompromiß suchender Anwalt. Klar, daß ein Raubtier wie der Liotta-Anwalt (oder auch Nicoles Anwältin, die IMHO genauso ein Raubtier ist, nur mit netterer Fassade) mehr herausholen kann, aber zu welchem Preis? Ich würde behaupten, für alle Beteiligten wäre es letztlich vorteilhaft oder zumindest nicht nachteilhaft gewesen (und hätte ihnen viel Ärger erspart), hätte sich Charlie auf den bereits ausgehandelten Deal eingelassen ...
Anonymous
09.02.2020 16:04 Uhr 2


Ich muss zugeben, dass ich den Teil über Alan Alda ziemlich an den Rand gedrängt habe, weil ich mich stärker auf die anderen Aspekte konzentrieren wollte, und da meine Argumentation daher arg verkürzt ist. Aber wenn du eh schon darauf eingehst, führe ich das hier dann gerne was weiter aus:



Aldas Rolle hat definitiv auf menschlicher Ebene den Durchblick. Er liegt vollkommen richtig, dass allen geholfen worden wäre, sich um eine schnelle, friedliche Einigung zu kümmern. Aber gute Intentionen sind nicht gleichzeitig gute Umsetzung. Er ist insofern das Komplementärbild zu Laura Dern, als dass irgendwo tief in dieser ausgebufften und scharf kämpfenden Anwältin tatsächlich dieser wohlmeinende Funke steckt "Der Frau wurde Unrecht angetan, nun gleichen wir das aus". Doch durch ihre Herangehensweise macht sie die Trennung so viel schmerzlicher, als sie bei Charlie und Nicole sonst abgelaufen wäre. Und Alda hat den richtigen Riecher, ist aber sehr luschig in der Umsetzung.



Das sieht man, wenn er zusammen mit Dern eine Sitzung hat und nichts auf die Reihe bekommt und dann beim "Time out" mit Charlie diese ellenlange Anekdote erzählt, die nirgendwo hingeht und Charlie Stundenlohn kostet, ohne dass sie was zur Sache beiträgt oder Charlie beruhigen würde. Ich denke, Aldas Figur wollte das Richtige, kann es aber nicht umsetzen - ein Eindruck, der sich potentiell durch sein Büro schon andeutete. Ich wusste eingangs nicht, ob es ein sympathisches, kleines Büro sein soll als Gegenpol zu den Protzbüros von Liotta und Dern, oder ob es als Loser-Absteige gemeint ist. Aber im Gesamtkontext des Films denke ich rückblickend, dass die Absteige-Lesart beabsichtigt war.



Vielleicht ist meine Einordnung der Figur nun nachvollziehbarer. :relaxed:
Nr27
10.02.2020 16:20 Uhr 3
Durchaus, ist letztlich aber wohl einfach Interpretationssache. Daß der Alda-Anwalt kein Superstar seines Berufsstandes ist, dürfte klar sein. Aber ich finde, letztlich erfahren wir im Film zu wenig über das, was er tatsächlich ausgehandelt hat, um wirklich über die Qualität des Deals urteilen zu können. Als Loser-Anwalt habe ich ihn jedenfalls nicht wahrgenommen, aber ich bin zugegebenermaßen in der Thematik absolut kein Experte und gehe daher in meiner Einschätzung eher nach Gefühl ...
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