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Gleichzeitig kann nur so eine derart starke Beziehung zwischen TV-Favoritinnen und -Favoriten und Zuschauerschaft entstehen, wie es bei der «Lindenstraße» von Anfang an der Fall war. Wenn man selbst mit einigen der Charaktere mitwächst respektive sie aufwachsen sieht und nur in Ausnahmefällen „gerecastet“ wird, misst man ihnen auch logischerweise eine andere Bedeutung bei, als wenn der stetige Wechsel Normalität ist. Für sehr lange Zeit war das Format ein ähnlicher Pflichttermin in zahlreichen Familien wie vielleicht heute gerade einmal noch der «Tatort» oder die «Sportschau», der einfach dazugehörte – unter anderem aufgrund dieser speziellen Bindung zu den in Haus Nummer 3 Lebenden. Und gerade deswegen ist es umso bemerkenswerter, dass „Mister «Lindenstraße» himself“ Hans W. Geißendörfer, seine Tochter Hana, die 2015 das Zepter übernahm, sowie sämtliche Autorinnen und Autoren im Prinzip seit jeher nahezu keiner Figur so wirklich zugestanden haben, ausschließlich auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Heißt: Selbst absolute Sympathieträger waren nicht davor gefeit, durch ein oder zwei falsche Entscheidungen plötzlich massiv in der Gunst der Anhänger und ihrer (fiktiven) Mitbewohnerinnen und Mitbewohner zu sinken. Und selbst wenn diese „Täler“ überwunden schienen, wurde nie (wie bei manch anderen Serien) von diesem Augenblick an der Mantel des Schweigens über Vorfall X gehült, sondern anlassbezogen auch durchaus wieder der Finger in die Wunde gelegt, was letztlich der Glaubwürdigkeit des Erzählten zugutekam.
Dies führt automatisch zu auf den ersten Blick sehr klar definierten, auf den zweiten allerdings ziemlich facettenreichen Figuren. Zu solchen, die es jedoch auch braucht, um 2020 (und in den Jahren davor) mit Storylines aufwarten zu können, die wahrscheinlich heute nicht mehr in die Kategorie „Tabubruch“ fallen würden, die dafür aber Minimum noch zu polarisieren vermögen. Allein in den letzten Monaten ging es unter anderem um Hebephilie, Gentrifizierung oder den selbstbestimmten Tod – Themen, um die viele Mitbewerber des „Fernsehdinos“ eher einen Bogen machen. Gerade die Art, wie man letzteres allerdings in die zielstrebig auf das große Finale zusteuernde Handlung integriert hat, steht exemplarisch für Glanzmomente, die in knapp dreieinhalb Jahrzehnten sicherlich nicht die Regel sein können, jedoch häufiger vorkamen, als manch einer, der seit Ewigkeiten wohl selbst YouTube-Clips meidet, nun aller Welt in den sozialen Netzwerken (zum Beispiel „Spacehorst" ) weismachen möchte.
Wie Jack Ludwig, nachdem sie ihn erst noch von seinem Plan abbringen wollte, schließlich doch auf seinem letzten Weg begleitet und ihm dabei hilft, sein Leben, an dem er trotz seines hohen Alters bis zuletzt hängt, so beenden zu können, dass er der unheilbaren Krankheit, die man bei ihm, dem Arzt, dem Fachmann, kurz zuvor diagnostiziert hat, zuvorkommen kann, dürfte niemanden kaltgelassen haben. Gerade auch, weil er, der ewige Strippenzieher, es bis zuletzt nicht lassen konnte und auch nach seinem Tod seine Liebsten noch vor besondere Herausforderungen stellen musste, die letztendlich aber dennoch beweisen, dass Dr. Ludwig Dressler etwas aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Überhaupt steht dieser Plot sinnbildlich für ein in vielerlei Hinsicht beispielhaftes Zusammenführen von Handlungssträngen. Die Verantwortlichen haben offenkundig keine Zeit verschwendet, nachdem endgültig feststand, dass sie auf ein nicht mehr abzuwendendes Ende zusteuern, weswegen sich ein Großteil der Geschichten aus 2019 und 2020 auch wie eine große Verabschiedung anfühlt.
Eine, die – typisch «Lindenstraße» – nicht für jeden ein Happy End bereithält und die selbst die Happy Ends, zu denen es kommt, mehrfach nicht ohne Schönheitsfehler auskommen lässt. Eine, in der große Meister der Filmkunst wie David Lynch zitiert werden, in der sich zahlreiche vertraute Gesichter auf zum Teil sehr unorthodoxe Weise noch einmal die Ehre geben, Hans W. Geißendorfer sogar selbst einen kleinen Part übernimmt, in der einem prominenten Fan wie Ex-VIVA-Gesicht und Podcaster Nilz Bokelberg mitsamt seiner dem Vorabendklassiker gegenüber eher (wie sich ihrem gemeinsamen Podcast „Wiedersehen macht Freude“ entnehmen lässt) „skeptisch“ eingestellten Verlobten Maria Lorenz ein kleiner Gastauftritt zugestanden werden kann, in der viele kleine Anspielungen auf legendäre Serienmomente (#lisaunddiebratpfanne) sowie auf die eigene Absetzung Platz finden und, und, und.
In der finalen Folge „Auf Wiedersehen“, deren Titel sicherlich auch in Anlehnung an die erste, die mit „Herzlich willkommen“ überschrieben war, entstanden ist, stehen nun noch einmal die beiden ewigen Rivalinnen Helga und Anna im Mittelpunkt – wie aus der sehr sehenswerten Dokumentation „Bye Bye Lindenstraße“ hervorgeht, haben Marie-Luise Marjan und Irene Fischer auch das allerletzte Bild der Formathistorie gemeinsam aufgenommen, das übrigens – so viel sei verraten – nicht das letzte ist, das die Zuschauerinnen und Zuschauer zu sehen bekommen. Neben diesen finalen Szenen zwischen den beiden Frauen von Hans Beimer, dem in gewisser Weise symbolischen Einzug neuer Nachbarn und einem schlüssig in das Drehbuch eingebauten „Schaulaufen“ des restlichen Ensembles bekommt in dieser Episode interessanterweise noch die vielleicht einzige echte Intrigantin, die je über längere Zeit ihr Unwesen in der «Lindenstraße» treiben durfte und die seit 2007 wunderbar von Daniela Bette gespielt wird, verhältnismäßig viel Screentime eingeräumt: Angelina Dressler, die vor ihrer Adoption durch Ludwig noch Buchstab hieß.
Ohne zu viel zu verraten: Dass man sie hier handeln lässt, wie sie handelt, ist quasi der letzte Beweis dafür, dass die inhaltlich Verantwortlichen nie darauf aus waren, jeden am Ende zufriedenzustellen. In diesem Kontext sei an die Taten der leidenschaftlich „gehassliebten“ «Listra»-Antagonisten Robert Engel (Martin Armknecht), Oliver Olli Klatt (Willi Herren) oder Olaf Kling (Franz Rampelmann) erinnert. Allein wegen des dramaturgischen Mutes, solche Ekel kreiert zu haben, die sich deutlich von all den klassischen Daily-Biestern und -Fieslingen unterscheiden, die TV-Deutschland ansonsten zu bieten hatte und hat, sollte man über den einen oder anderen Dialog, der womöglich eine Spur zu konstruiert klingt, großzügig hinwegsehen.
Wie anfangs bereits angedeutet: Es ist nachvollziehbar, warum die «Lindenstraße» mindestens so viele Kritiker wie Befürworter hat, dennoch macht (auch bei der Besprechung von TV-Produktionen) der Ton die Musik. Selbst wenn man also das Format schon lange für überholt hält und sich seit einer gefühlten Ewigkeit fragt, weshalb es nicht längst abgesetzt worden ist, sollte man dennoch anerkennen können, dass Familie Geißendörfer und ihr Team etwas geschaffen haben, das TV-Geschichte geschrieben hat, und die Leistung aller Beteiligten daher Respekt verdient, was selbstredend nicht bedeutet, sich nicht auch kritisch zu der Serie, die auf die nach wie vor laufende britische Soap «Coronation Street» (seit 1960 on air) zurückgeht, äußern zu dürfen – denn genau das wiederum, die Kontroverse, ist immerhin wesentlicher Bestandteil ihrer eigenen DNA.
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