Der Hintergrund
Die Passagiere von BE Airlines Flug 21 erleben spät abends am Brüsseler Flughafen ein ganz normales Check-in, als plötzlich ein bewaffneter Mann das Flugzeug stürmt und den Piloten zum Start zwingt. Als Entführer entpuppt sich der italienische Major Terenzio. Er erzählt eine wirre Geschichte über die Sonne, die bei Sonnenaufgang alle Menschen töten würde und verlangt, die Maschine anstatt wie geplant nach Moskau, Richtung Westen zu steuern. Der Pilot Mathieu hält den Kidnapper für einen verrückten Terroristen, gehorcht aber widerwillig. Er fliegt nach Island in der Hoffnung, dort von einem Sondereinsatzkommando empfangen zu werden. Doch seine Hoffnungen werden jäh zerstört, denn während des Anflugs auf Reykjavik sieht Mathieu etwas, dass die Aussagen des Majors plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen. Flugzeuge brennen, Menschen rennen in Panik hin und her. Was ist hier geschehen? Ein Anschlag? Der dritte Weltkrieg? Oder hatte Terenzio mit seiner bizarren Geschichte über die Sonne etwa doch recht?
Und ewig grüßt der Weltuntergang?
Serien und Filme mit postapokalyptischem Thema liegen derzeit voll im Trend. Der Grundgedanke, dass die Menschheit in einer nahen Zukunft oder einer alternativen Gegenwart durch irgendein verheerendes Katastrophenszenario fast ausgelöscht wird, übt offensichtlich auf uns eine ungebrochene Faszination aus. Die als Background dienenden Ursachen für das Armageddon sind seit den 50er Jahren dabei im Grunde unverändert geblieben.
In «The Walking Dead» (FOX, RTLZWEI), «See – Reich der Blinden» (Apple TV+) oder «The Rain» (Netflix) ist es beispielsweise ein Virus, welches die Erdbevölkerung dezimiert. «The 100» (sixx) wartet mit den Nachwirkungen eines Atomkrieges auf, die frisch gestartete Filmadaption «Snowpiercer» (Netflix) hingegen mit einer Eiszeit. Die seit Anfang Mai, ebenfalls auf Netflix zu bewundernde belgische Produktion «Into the Night» spielt mit der Idee einer katastrophal verlaufenden Polaritätsumkehr der Sonne. Alles schon dagewesen, könnte man nun meinen. Und so gesehen stimmt das natürlich auch. Hollywood und Japan beglücken Kinogänger und Serienjunkies immerhin bereits seit den 50er Jahren mit diversen Untergangsszenarien, die je nach Zeitgeist mal mehr oder weniger in den Vordergrund rücken. Neu ist allerdings, dass die Europäer in den vergangenen Jahren verstärkt mitmischen – und das mit zunehmendem Erfolg. Vor allem Netflix scheint gerne zu experimentieren. Die Vorteile liegen für den Anbieter klar auf der Hand. Europäische Serienproduktionen sind wesentlich günstiger und treffen zudem oft eine andere Tonlage, als ihre US-amerikanischen Vorbilder. Während Hollywood weiterhin auf Starappeal, jugendliche Schönheit oder kinoreife CGI setzt, setzt man in unseren Breitengraden auf andere Tugenden.
Ein starker Fokus
«Into the Night» ist ein gutes Beispiel dafür, wie man mit wenig Aufwand, einem starken, gut durchmischten Cast und einer zu Ende gedachten Charakterisierung der Figuren eine fesselnde Serie produzieren kann, die mit einem Bruchteil der Budgets auskommt, die in Amerika für eine Staffel veranschlagt werden. Ohne großen Knalleffekt und in Sachen Spezialeffekte erfreulicherweise auf das Nötigste reduziert, entspinnt sich vor dem Zuschauer ein kammerspielartiges Drama, dass sich voll auf seine interessanten Figuren konzentriert. Nicht das Geschehene rückt in den Mittelpunkt der Erzählung, sondern die Überlebenden, die sich in einer Passagiermaschine zusammenraufen müssen, wenn sie weiterleben möchten. Dabei gewährt uns Ideengeber Jason George, der sich mit Projekten wie der türkischen SciFi-Actionserie «The Protector» oder der jemenitischen Fantasyserie «Dschinn» gerne außerhalb der USA herumtreibt, einen tiefen Einblick in die Gefühlswelt der von ihm porträtierten Menschen.
Jeder Hauptfigur wird eine Folge gewidmet, die durch eine kurze Rückblende eingeleitet wird. Der Flashback dient als Hintergrundinformation und hilft, die Handlungsweisen der Protagonisten besser nachvollziehen zu können. So unterschiedlich die Motive der Fluggäste auch waren, am Ende müssen sie als Gruppe unbequeme Entscheidungen treffen, die menschlich durchaus nachvollziehbar, wenn auch bisweilen moralisch fragwürdig sind. Immer wieder stellen sich der Gruppe während ihrer Flucht vor dem Sonnenaufgang neue Herausforderungen, die zum Teil selbstgemacht sind, aber immer im Team gelöst werden. Dabei wechselt der ein oder andere auch gerne einmal die Seiten oder bleibt bis zu einem gewissen Punkt undurchsichtig. Die Figurenzeichnung des wankelmütigen Moralapostels, der besorgten russischen Mutter, des kühl berechnenden türkischen Dealers, der schwarzen Krankenschwester, oder der Armee- Pilotin, die ihren Freund verloren hat und sich eigentlich umbringen wollte, erscheint oberflächlich betrachtet, vielleicht zunächst etwas klischeehaft. Doch je länger man mit den Akteuren verweilt, je länger die Odyssee dauert, je differenzierter präsentieren sich die Menschen, denen wir auf ihrer Reise folgen. Großartig!
Reduziert, aber klasse!
Optisch zeigt sich «Into the Night» frei von großem Bombast. CGI wird hauptsächlich eingesetzt, um den Irrflug der BE-Airways-Maschine ansprechend zu visualisieren. Ansonsten beschränkt sich die bildhafte Umsetzung der Apokalypse überwiegend auf am Boden liegende oder in sich zusammengesackte Statisten. Nachtaufnahmen von Brüssel, die die Stadt hell beleuchtet aber menschenleer zeigen, kreuz und quer auf den Straßen verteilte Autos mit offenen Türen und ähnliche Stilmittel komplettieren das glaubwürdige Bild einer Welt (fast) ohne Menschen. Das ohne allzu großen Aufwand entworfene Szenario funktioniert auch ohne brennende Städte, wandelnde Tote oder Mattepaintings von in Trümmern liegenden Metropolen hervorragend und schafft es, den Zuschauer in seinen Bann zu ziehen. Hinzu gesellt sich ein sparsam eingesetzter, aber bedrohlicher Score, der seine Wirkung aus dem Hintergrund nicht verfehlt.
Fazit: So kann es gehen. Ohne wütende Mobs, unnötige Brutalität und mit einem auf das Nötigste reduziertem Background gelingt es Jason George, den Roman „Starość aksolotla“ des polnischen Schriftstellers Jacek Dukaj für Netflix zu adaptieren und wie aus dem Nichts ein kleines Juwel hinzulegen, das seit Anfang Mai laut Netflix-Hitliste unter den zehn beliebtesten Serien des Streaminganbieters rangiert. Das Ausgangsszenario ist simpel und altbekannt, doch wird mit der faszinierenden Prämisse der Flucht vor der Sonne aufgepeppt. Die Lebensspenderin schlechthin, die seit Jahrtausenden angebetet und verehrt wurde, wird zum globalen Killer erklärt, vor der man sich nur schützen kann, wenn man immer Richtung Nacht flieht. Wie sich das Zusammenleben auf engstem Raum, immer der Dunkelheit entgegen, auf Sylvie, Mathieu, Terenzio, Ayaz, Laura, und die anderen auswirkt, bleibt von der ersten bis zur letzten Sekunde spannend und glaubwürdig. Das Ende der ersten Staffel birgt darüber hinaus genug Potential für eine Fortsetzung.
Die erste Staffel von «Into the Night» umfasst sechs Folgen und kann auf Netflix gestreamt werden.
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