First Look

«Wo noch niemand war»: Wie Disney+ «Die Eiskönigin II» in ein völlig neues Licht rückt

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Verzweiflung, nahezu endlose Überstunden, eine Filmhandlung, die bis auf den letzten Drücker überarbeitet wird und jede Menge Frust: Die Produktion von «Die Eiskönigin II» war ein schmerzlicher Kraftakt.

Im November 2019 startete mit «Die Eiskönigin II» die 150 Millionen Dollar teure Fortsetzung des globalen Filmphänomens «Die Eiskönigin». Und wirtschaftlich war das Sequel aus dem Hause Disney ein unbestreitbarer Erfolg: Über 1,4 Milliarden Dollar wurden mit den neuen Geschichten der Eiskönigin Elsa, ihrer quirligen Schwester Anna und dem sprechenden Schneemann Olaf in die Kinokassen gespült. Über die künstlerische Güte der Fortsetzung lässt sich derweil streiten: Einerseits spricht der Kritikerkonsens laut der Aggregatorseite Rottentomatoes von einem berauschenden Abenteuer. Andererseits gab es nicht wenige schwer enttäuschte Stimmen zu notieren, die den Film als thematisch konfus und erzählerisch undurchdacht beschreiben.

Schon bevor «Die Eiskönigin II» überhaupt fertig war, geschweige denn in die Kinos kam, kündigte Disney an, auf seinem Streamingdienst Disney+ eine mehrteilige Dokuserie zu veröffentlichen, die sich dem Produktionsprozess des Films annimmt. Wer dieses Projekt vorschnell als Promo-Maßnahme für eine kostspielige Leinwandproduktion abgetan hat, tat «Wo noch niemand war» (Originaltitel: «Into the Unknown») Unrecht. Denn es hat ganz offensichtlich einen guten Grund, weshalb Disney+ die sechsteilige Dokuserie erst zum Abruf bereitstellt, nachdem «Die Eiskönigin II» bereits im Kino, im Heimkino und in vielen Ländern auch auf Disney+ veröffentlicht wurde:

«Wo noch niemand war» ist eine ziemlich kompromisslose, unbeschönigte Auseinandersetzung damit, wie zermürbend die Produktion von Big-Budget-Computeranimationsfilmen generell ist und welche enorme, nicht gerade schmeichelhafte Herausforderungen speziell im Fall von «Die Eiskönigin II» gemeistert werden mussten.

Die erste von sechs Folgen, die in jeweils rund 30 bis 40 Minuten einen die Filmschaffenden besonders stark beanspruchenden Zeitabschnitt während der «Die Eiskönigin II»-Produktion abdecken, setzt ein Jahr vor der Weltpremiere an: Die Animationscrew spricht davon, 14 Arbeitsstunden täglich zu haben, und die Story-Crew sowie die Regisseure Jennifer Lee und Chris Buck realisieren, dass sie zwei nicht unerlässliche Verständnisfragen zu klären haben. Denn bei internen Vorführungen und Besprechungen von «Die Eiskönigin II» stellt sich heraus, dass der Film einige eklatante Unklarheiten hinterlässt: Weder wird deutlich, was die Stimme symbolisieren soll, die Elsa im Laufe des Filmes lockt, noch, was genau Elsas Motivation im letzten Filmdrittel überhaupt ist.

Da zudem im Filmteam Uneinigkeit herrscht, was die Antworten auf diese Fragen sein sollten, sollte sich das noch als arge Schieflage im Produktionsprozess herausstellen, die lange Diskussionen nach sich zieht – und die den emotionalen Wendepunkt des Films in Bedrängnis bringt: Bei diesen offenen Fragen ist der Song "Show Yourself" eine stark klingende, in den Augen vieler aber nichtssagende Nummer, an der lange gefeilt werden muss – und das, obwohl der Zug namens «Die Eiskönigin II» ja schon lange rollt und immer schneller in Richtung Endstation düst.

Die Dokuserie «Wo noch niemand war» zeigt außerdem, wie mitten in der Filmproduktion die Figur Kristoff überarbeitet wird und einen neuen Song bekommt. Als in der Szene dazu aus Jux ein Mitglied der Storyboard-Crew singende Rentiere einbaut, und das den Regisseuren gefällt, muss ein anderes Mitglied die Animationsmodelle der Rentiere überarbeiten, weil die eigentlich nicht dazu gedacht waren, Gesang ausdrücken zu können. Und solche Anekdoten häufen und häufen sich, obwohl sich der Kinostart mit riesigen Schritten nähert. «Die Eiskönigin II» wurde, und das wird in dieser Making-of-Doku mit jeder Folge immer deutlicher, mit einer sehr heißen Nadel gestickt: Als der Trailer im Vorfeld von «Captain Marvel» veröffentlicht wurde, waren fast nur die Szenen fertig, die im Trailer vorkamen – und selbst die hatten noch nicht die korrekte, endgültige Farbsetzung.

Ein Großteil von «Wo noch niemand war» besteht aus Aufnahmen von Gesichtern voller Sorgenfalten und mit gigantischen Augenringen, und in manchen Szenen glaubt man, dass die gezeigten Künstlerinnen und Künstler kurz davor sind, einen Heulkrampf zu erleiden, weil dieser Film, an dem sie arbeiten, einfach nicht endlich mal glatt vorwärts kommt. «Wo noch niemand war» reißt somit die Vorstellung davon ein, dass in den Walt Disney Animation Studios gezaubert wird – dort wird nämlich extrem hart und teilweise sehr chaotisch gearbeitet. Und auch wenn die Dokuserie so den Respekt vor dem Kunsthandwerk in «Die Eiskönigin II» vergrößert, legt sie zugleich offen, wo einige der inhaltlichen Probleme des Films herrühren.

Zugleich umfasst die Serie aber auch sehr rührende, menschelnde Momente: Kristen Bell spricht beispielsweise auf ehrliche, emotionale Weise von ihrem Kampf mit Depressionen und Chris Buck spricht davon, wie er mit dem Verlust seines Sohnes umgeht, der nach einem langen Kampf gegen Krebs bei einem Autounfall aus dem Leben gerissen wurde.

«Wo noch niemand war» ist somit ein Disney-Making-of, wie es zuvor nie war – und eine der dramatischsten, bewusst-unmagischsten Serien auf Disney+.

«Wo noch niemand war» ist ab dem 26. Juni 2020 auf Disney+ abrufbar.

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