Hintergrund

Serientheorie: Die atemberaubende Reise

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Filme und Fernsehserien folgen einem klaren Muster – und das seit Jahrzehnten. Dieses Mal: Die große Abenteuerreise.

Die große Reise, ein weiteres besonderes Film- und Serienmotiv, ist seit Jahrtausenden nicht wegzudenken. Schon in grauester Vorzeit haben sich Menschen am Lagerfeuer Geschichten erzählt, Stoffe wie das Ramayana-Epos oder das Epos von Gilgamesh gehören neben religiösen Motiven aus dem Tanach, der Bibel, den Upanishaden oder dem Koran zu den klassischen Erzählungen der Menschheitsgeschichte – und in ihrem Zentrum steht stets die Reise eines Helden, im physischen wie im metaphysischen Sinne. Im Filmbereich ist die klassische Heldensaga mit Stoffen wie «Star Wars» oder «Indiana Jones» vertreten – und auch Serienstoffe lieben dieses Motiv.

Doch im Fernsehen hat das Genre des großen Abenteuers im Gegensatz zu vielen anderen Gattungen nur einen überschaubaren Vorrat. Vor mehr als einem Jahrzehnt begann «The Walking Dead» als neuer Vorreiter, entwickelte sich allerdings nach einigen Staffeln zur Seifenoper. Nicht mehr das Ziel steht bei der Zombie-Serie im Mittelpunkt, sondern der Weg. Im Gegensatz zu Formaten wie «CSI», «The Big Bang Theory» und anderen großen Serien wird nicht auf den großen Knall hingearbeitet.

Bei der großen Reise verfolgt der Hauptprotagonist ein stetiges Ziel vor Augen. In Vince Gilligans «Breaking Bad» weiß Walter White, dass es bald sterben wird. Mit dem Tod vor Augen muss er möglichst schnell möglichst viel Geld für seine Familie anhäufen, um ihr nach seinem Ableben ein hinreichendes Auskommen zu ermöglichen. Der Endpunkt war von Anfang an gesetzt, und AMC-Serie hätte wohl niemals einen solchen Erfolg (vor allem im Nachgang über Streaming-Anbieter) gehabt, wenn die Verantwortlichen ihren Stoff mit immer wahlloser werdenden weiteren Staffeln bis zum inhaltlichen Exitus ausgereizt hätten.

Ähnlich verhält es sich mit der HBO-Serie «Game of Thrones», die sich an den Buchvorlagen von George R. R. Martin orientierte. Die Fokussierung auf das eigentliche Epos war der glückliche Zufall, der die Serie so episch machte. Denn man muss bedenken: Serienmacher hatten bislang wenig Interesse daran, eine Serie abzuschließen. Stattdessen werden viele Formate allein aus wirtschaftlichen Interessen gemolken und dafür auch immer gravierender werdende inhaltliche Probleme in Kauf genommen. Die BBC-Serie «His Dark Materials» ist ebenso ein guter Vertreter der neuen Hinwendung zur von Anfang an mit dem Endpunkt im Blick produzierten Serie wie das Sky-Format «Chernobyl».

Selbstverständlich steht das Thema „Die atemberaubende Reise“ nur metaphorisch im Mittelpunkt. «Breaking Bad» verließ seine Heimat Albuquerque im US-Bundesstaat New Mexico nur in den seltensten Fällen, bei «Game of Thrones» minimierten sich zum Finale hin die Handlungsorte drastisch. «His Dark Materials» beginnt dagegen in einem Oxford aus der Parallelwelt, bevor der Stoff wie bei Frodo in der Filmreihe «Der Herr der Ringe» zu einer großen Reise aufbricht.

Im Mittelpunkt der Reise-Serien stehen Protagonisten unterschiedlichster Couleur, die zu ihrem größten Abenteuer aufbrechen. Die Charaktere sind deutlich detaillierter gezeichnet als in Mainstream-Serien wie «CSI» oder «Grey’s Anatomy» und folgten ihren eigenen Vorstellungen, die zu Beginn nicht immer greifbar sind. Der Hauptcharakter entwickelt sich während der Folgen spürbar weiter und hinterfragt sein Handeln. Bei «Breaking Bad» verstirbt Walter White schlussendlich nicht an seiner Krebserkrankung, bei «Chernobyl» wird die zentrale Figur, der Wissenschaftler Walteri Legassow, vom kommunistischen System mundtot gemacht.

Während dieser großen Reise wird das eigentliche Abenteuer oftmals von neuen Problemen unterbrochen, welche die Handlung immer wieder aus der Bahn werfen. In diesen kleinen Zwischenspielen, die ein Teil des großen Ausflugs sind, lernen die Hauptcharaktere Neues über sich selbst. Bei «His Dark Materials» lernt Lyra, das Alethiometer zu lesen, Walter White wird zum skrupellosen Mörder. Mit Lyras eigentlicher Aufgabe, Roger zu finden, hat das genauso wenig zu tun, wie White in der Wüste des amerikanischen Südwestens tonnenweise Crystal Meth produzieren muss.

Den Serienhelden der großen Reise stehen – wie auch in ihrem filmischen Pendant – dabei Side-Kicks zur Seite. Yoda war der große Lehrmeister in «Star Wars», Jesse Pinkman ist in «Breaking Bad» eine Figur, an der entlang der Hauptcharakter zusehends in die Niederungen seiner dunklen Geisteswelt entglitt. In zahlreichen Serien kann die Zahl der Nebenfiguren variieren und auch ersetzt werden. Während in vielen Sitcoms die „normalen Typen“ die Identitätsfiguren sind, möchte sich der Zuschauer „auf der großen Reise“ mit dem Titelhelden vergleichen. Bei dieser Seriengattung ist es besonders schwierig, sich auf den Stoff einzulassen, denn zahlreichen Vertreter geht leider vor dem Finale die Puste aus. Und erst ganz am Schluss erkennt man als Zuschauer, ob man wirklich an einer einnehmenden Heldenserie teilnehmen durfte.

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