Filmfacts «Berlin Alexanderplatz»
- Regie: Burhan Qurbani
- Drehbuch: Burhan Qurbani, Martin Behnke; basierend auf dem Roman von Alfred Döblin
- Produktion: Leif Alexis, Jochen Laube, Fabian Maubach
- Cast: Welket Bunguê, Jella Haase, Albrecht Schuch, Joachim Król, Thelma Buabeng
- Laufzeit: 183 Minuten
- Altersfreigabe: ab 12 Jahren
Dass der Stoff nun, 40 Jahre später, erneut wiederentdeckt wird, kommt nicht von ungefähr: Döblins fesselnde Geschichte des gleichermaßen verträumten wie unbelehrbaren Lohnarbeiters Franz Biberkopf, der nach seiner Haftentlassung eine neue Existenz aufbauen möchte, war im Deutschland zwischen den Weltkriegen ein immenser Verkaufserfolg. Darüber hinaus war Döblins Werk aufgrund seiner vielen, sich auf packende Weise abwechselnden stilistischen Schüben und weit verzweigten Referenzen auf Literatur und Mythologie, ein sehr einflussreiches Stück Literatur. Die Literaturforschung produzierte Berge an Interpretationsansätzen und zahlreiche Literaturschaffende übten sich in Parodien, Anspielungen und der Verarbeitung von Döblings eindrucksvoller Erzählweise für eigene Milieu, Kriminal- und Bildungsromane.
So gesehen lag es geradezu auf der Hand, dass ein Regisseur, der sich vom großen Ruhm der Vorlage und der Fassbinder-Adaption nicht einschüchtern lässt, an eine zeitgemäße Uminterpretation traut. Denn Berlin ist heutzutage einerseits eine völlig andere und zugleich doch noch genau dieselbe Stadt wie zu Döblins Zeiten: Ästhetiken, sprachliche Angewohnheiten und die Zusammensetzung der vom System abgehängten demografischen Schicht haben sich verändert, allerhand soziale Mechanismen, die in der Weite der widersprüchlichen Großstadt greifen, indes nicht.
Und so erfindet «Wir sind jung. Wir sind stark»-Regisseur Burhan Qurbani «Berlin Alexanderplatz» als in Neonlicht getunkte Parabel auf die Aufstiegschancen in der modernen Bundesrepublik neu – und zugleich belässt er es als zeitloses Epos über die Macht der Verführung. Denn damals wie heute steht im Mittelpunkt dieser tragischen Erzählung voller sarkastischem Wortwitz und fiebrigen Erlebnissen ein Mann, der vorhat, redlich zu sein. Aber seine höchst individuelle charakterliche Schwäche, der eklatante Mangel an angemessener Hilfestellung des sozialen Systems, und die Vehemenz unbeirrbarer, toxischer Gesellen sorgen für einen kaum zu bekämpfenden, alles mitreißenden Wellengang an förderlichen wie schädlichen Einflüssen auf unseren Protagonisten.
Im Mittelpunkt der erneuerten «Berlin Alexanderplatz»-Geschichte steht ein Geflüchteter aus Afrika, der sich danach sehnt, ein in jeglichem Wortsinne gute Leben zu führen. Doch der impulsive Francis wird immer wieder auf fatale Proben gestellt. Schließlich ist der einzige Berliner, der sich nach seiner Ankunft voller Einsatz in einem Flüchtlingsheim blicken lässt, der schräge, näselnde, keuchende, aber mit einer bestechenden, intensiven Art auftretende Drogendealer Reinhold.

Verdeutlicht wird dies durch die Bildführung durch Yoshi Heimrath («Die Vierhändige»), dessen Kamera oftmals durch die Schauplätze schwebt – wenn sie sich nicht wie massiv angetrunken krumm und schief durch das Geschehen schleppt. Die Schauplätze sind knallbunt ausgeleuchtet, doch stark entsättigt eingefangen, so dass wir, begleitet von berauschender Musik, in ein Wechselspiel aus pechschwarzen Flächen und pulsierenden Neonlichtern abtauchen. Dieser Film ist eine wahre ästhetische Wucht!
- © Entertainment One
Pums (Joachim Król) kontrolliert seine Geschäfte.
Das alles wäre jedoch nicht einmal halb so eindringlich, wäre da nicht dieser wundervolle Cast, der den opernhaft überhöhten Pathos und die moderne, berauschende Inszenierung, die jauchzende Tragik und die menschelnde Hoffnung in diesem Film zu vereinen versteht: «Systemsprenger»-Hauptdarsteller Albrecht Schuch macht aus dem neurotischen, sexsüchtigen und heiseren Drogenhändler Reinhold eine enigmatische Person, die gleichzeitig Lachnummer, schräger Kumpel und finstere Bedrohung sein kann.

Und dann ist da natürlich noch Welket Bungué: Der hierzulande bisher kaum bekannte, schwer geschäftige Filmemacher und Schauspieler spielt so minutiös und intensiv, dass die überhöhte, beispielhafte Figur Francis nicht nur als das dramatische Symbol aufgeht, als dass sie entworfen wurde, sondern zugleich ein nahbarer, zerrissener Mensch wird, an dessen Schicksal wir unmittelbar teilhaben. Bungué macht Francis zu einer eigenständigen Figur, die dem Franz Biberkopf aus der Romanvorlage in groben Zügen ähnelt, als Stellvertreter für Hunderte ähnlicher Schicksale steht und dennoch ganz und gar individuell ist. Er macht Francis zum filmischen Vertreter eines aktuellen, und doch ganz, ganz alten Deutschlands.
Fazit: Mit Burhan Qurbanis «Berlin Alexanderplatz» wird eine filmische Urgewalt entfesselt – bloß nicht entgehen lassen!
«Berlin Alexanderplatz» ist ab dem 16. Juli 2020 in deutschen Kinos zu sehen.
Es gibt 7 Kommentare zum Artikel
15.07.2020 10:59 Uhr 1
15.07.2020 11:32 Uhr 2
23.07.2020 00:15 Uhr 3
Toller Film sonst, der sich sehr eng an der Romanvorlage orientiert.
23.07.2020 00:25 Uhr 4
23.07.2020 10:59 Uhr 5
23.07.2020 11:44 Uhr 6
23.07.2020 12:24 Uhr 7