Die Kino-Kritiker

«Berlin Alexanderplatz»: Alfred Döblins Romanklassiker wird zum soghaften Trip durch das heutige Berlin

von   |  7 Kommentare

Der erste filmische Knall seit langen Monaten: Burhan Qurbanis «Berlin Alexanderplatz» ist die klug beobachtete, stilistisch verwegene Neuinterpretation eines Klassikers.

Filmfacts «Berlin Alexanderplatz»

  • Regie: Burhan Qurbani
  • Drehbuch: Burhan Qurbani, Martin Behnke; basierend auf dem Roman von Alfred Döblin
  • Produktion: Leif Alexis, Jochen Laube, Fabian Maubach
  • Cast: Welket Bunguê, Jella Haase, Albrecht Schuch, Joachim Król, Thelma Buabeng
  • Laufzeit: 183 Minuten
  • Altersfreigabe: ab 12 Jahren
Alfred Döblins wegweisender Roman «Berlin Alexanderplatz» gilt als Meilenstein unter den Großstadtromanen: 1929 zeichnete der Autor gleichermaßen nachdrücklich wie poetisch die Möglichkeiten und fatalen Fallstricke der Weimarer Republik nach. Bereits drei Jahre später wurde der Roman erstmals verfilmt, endgültig unsterblich wurde er durch eine 1980 erschienene, oft zitierte sowie monumentale Fernsehserie von Rainer Werner Fassbinder.

Dass der Stoff nun, 40 Jahre später, erneut wiederentdeckt wird, kommt nicht von ungefähr: Döblins fesselnde Geschichte des gleichermaßen verträumten wie unbelehrbaren Lohnarbeiters Franz Biberkopf, der nach seiner Haftentlassung eine neue Existenz aufbauen möchte, war im Deutschland zwischen den Weltkriegen ein immenser Verkaufserfolg. Darüber hinaus war Döblins Werk aufgrund seiner vielen, sich auf packende Weise abwechselnden stilistischen Schüben und weit verzweigten Referenzen auf Literatur und Mythologie, ein sehr einflussreiches Stück Literatur. Die Literaturforschung produzierte Berge an Interpretationsansätzen und zahlreiche Literaturschaffende übten sich in Parodien, Anspielungen und der Verarbeitung von Döblings eindrucksvoller Erzählweise für eigene Milieu, Kriminal- und Bildungsromane.

So gesehen lag es geradezu auf der Hand, dass ein Regisseur, der sich vom großen Ruhm der Vorlage und der Fassbinder-Adaption nicht einschüchtern lässt, an eine zeitgemäße Uminterpretation traut. Denn Berlin ist heutzutage einerseits eine völlig andere und zugleich doch noch genau dieselbe Stadt wie zu Döblins Zeiten: Ästhetiken, sprachliche Angewohnheiten und die Zusammensetzung der vom System abgehängten demografischen Schicht haben sich verändert, allerhand soziale Mechanismen, die in der Weite der widersprüchlichen Großstadt greifen, indes nicht.

Und so erfindet «Wir sind jung. Wir sind stark»-Regisseur Burhan Qurbani «Berlin Alexanderplatz» als in Neonlicht getunkte Parabel auf die Aufstiegschancen in der modernen Bundesrepublik neu – und zugleich belässt er es als zeitloses Epos über die Macht der Verführung. Denn damals wie heute steht im Mittelpunkt dieser tragischen Erzählung voller sarkastischem Wortwitz und fiebrigen Erlebnissen ein Mann, der vorhat, redlich zu sein. Aber seine höchst individuelle charakterliche Schwäche, der eklatante Mangel an angemessener Hilfestellung des sozialen Systems, und die Vehemenz unbeirrbarer, toxischer Gesellen sorgen für einen kaum zu bekämpfenden, alles mitreißenden Wellengang an förderlichen wie schädlichen Einflüssen auf unseren Protagonisten.

Im Mittelpunkt der erneuerten «Berlin Alexanderplatz»-Geschichte steht ein Geflüchteter aus Afrika, der sich danach sehnt, ein in jeglichem Wortsinne gute Leben zu führen. Doch der impulsive Francis wird immer wieder auf fatale Proben gestellt. Schließlich ist der einzige Berliner, der sich nach seiner Ankunft voller Einsatz in einem Flüchtlingsheim blicken lässt, der schräge, näselnde, keuchende, aber mit einer bestechenden, intensiven Art auftretende Drogendealer Reinhold.

Zunächst versucht Francis, dem verbissenen Kauz die kalte Schulter zu zeigen. Doch nach einer tragischen Auseinandersetzung bei einem schweren Job mit einem garstigen Vorarbeiter beginnt für Francis eine regelrechte Teufelsspirale. Regisseur/Autor Burhan Qurbani und Autor Martin Behnke nutzen diese als Triebfeder für ein rund dreistündiges Epos, das Sittenporträt, Kriminaltragödie und Zeitgeistkommentar zugleich ist – und das sich bei aller altbewährter narrativer und thematischer Wucht dennoch frisch anfühlt. Denn Qurbani inszeniert das Geschehen wie ein Delirium aus moralischen Dilemmata, sündiger Manipulation und (vorgetäuschten) Freiheiten.

Verdeutlicht wird dies durch die Bildführung durch Yoshi Heimrath («Die Vierhändige»), dessen Kamera oftmals durch die Schauplätze schwebt – wenn sie sich nicht wie massiv angetrunken krumm und schief durch das Geschehen schleppt. Die Schauplätze sind knallbunt ausgeleuchtet, doch stark entsättigt eingefangen, so dass wir, begleitet von berauschender Musik, in ein Wechselspiel aus pechschwarzen Flächen und pulsierenden Neonlichtern abtauchen. Dieser Film ist eine wahre ästhetische Wucht!

Das alles wäre jedoch nicht einmal halb so eindringlich, wäre da nicht dieser wundervolle Cast, der den opernhaft überhöhten Pathos und die moderne, berauschende Inszenierung, die jauchzende Tragik und die menschelnde Hoffnung in diesem Film zu vereinen versteht: «Systemsprenger»-Hauptdarsteller Albrecht Schuch macht aus dem neurotischen, sexsüchtigen und heiseren Drogenhändler Reinhold eine enigmatische Person, die gleichzeitig Lachnummer, schräger Kumpel und finstere Bedrohung sein kann.

«Fack Ju Göhte»-Star Jella Haase wiederum fungiert als einfühlsame, vom Schicksal der Hauptfigur Francis ergriffene Erzählerin, die sich letztlich als selbstständige, gewiefte Sexarbeiterin Mieze herausstellt, die Francis in der Stunde der Not bei sich aufnimmt. Haase gelingt es mit vermeintlicher Leichtigkeit, die zahlreichen Facetten, die Francis an Mieze achtet und teilweise auf sie projiziert, so mit Leben zu füllen, dass Mieze glaubhaft kindlich-optimistisch, sexuell selbstbestimmt, erwachsen-vorsorglich und ersatzmütterlich sein kann, ohne zur Chiffre, Wunschvorstellung oder widersprüchlichen Plot-Triebfeder auf zwei Beinen zu verkommen.

Und dann ist da natürlich noch Welket Bungué: Der hierzulande bisher kaum bekannte, schwer geschäftige Filmemacher und Schauspieler spielt so minutiös und intensiv, dass die überhöhte, beispielhafte Figur Francis nicht nur als das dramatische Symbol aufgeht, als dass sie entworfen wurde, sondern zugleich ein nahbarer, zerrissener Mensch wird, an dessen Schicksal wir unmittelbar teilhaben. Bungué macht Francis zu einer eigenständigen Figur, die dem Franz Biberkopf aus der Romanvorlage in groben Zügen ähnelt, als Stellvertreter für Hunderte ähnlicher Schicksale steht und dennoch ganz und gar individuell ist. Er macht Francis zum filmischen Vertreter eines aktuellen, und doch ganz, ganz alten Deutschlands.

Fazit: Mit Burhan Qurbanis «Berlin Alexanderplatz» wird eine filmische Urgewalt entfesselt – bloß nicht entgehen lassen!

«Berlin Alexanderplatz» ist ab dem 16. Juli 2020 in deutschen Kinos zu sehen.

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Es gibt 7 Kommentare zum Artikel
Sentinel2003
15.07.2020 10:59 Uhr 1
Der geht tatsächlich volle 183 min.???
Neo
15.07.2020 11:32 Uhr 2
Crazy.
Trick17
23.07.2020 00:15 Uhr 3
Als illegaler krimineller Flüchtling mit gefälschtem Pass wird man in Deutschland wohl abgeschoben und landet nicht im Gefängnis. Das ist aber die einzige Fehlkonstruktion an der in die Gegenwart übertragenen Handlung.

Toller Film sonst, der sich sehr eng an der Romanvorlage orientiert.
Anonymous
23.07.2020 00:25 Uhr 4
Lässt sich mMn als kreative Freiheit durchwinken, da so die entsprechenden Szenen die erzählerischen und inszenatorischen Möglichkeiten erhalten, die bei einer Abschiebung verloren gegangen wären, und durchaus notwendig sind, um den Grundtenor des Films bis zum Ende durchzuziehen.
Trick17
23.07.2020 10:59 Uhr 5
Das stimmt, allerdings machen diese und einige andere Unstimmigkeiten am Ende die Krimi-Komponente im Plot unglaubwürdig. (Warum wird Reinhold nicht aufgrund seiner Fingerabdrücke nach der Gewalttat an der schwangeren Mieze festgenommen? Wie konnte Mieze so schnell gefunden werden, dass ihr Kind überlebt hat? Francis wird mit den Bildern der toten Mieze konfrontiert - wofür wird er verurteilt?) Das wirkt im Buch aufgrund der andern Umstände realistischer.
Anonymous
23.07.2020 11:44 Uhr 6
Was daran liegt, dass der Film noch stärker das Element der "emotionalen Realität" gewichtet und sich mehr um Francis' emotionale Reise dreht als um die minutiösen Abläufe. Wir sollen in das Gefühl Berlin abtauchen, statt die Mühlen der Bürokratie und Rechtsprechung kleinlich zu beäugen.
Wolfsgesicht
23.07.2020 12:24 Uhr 7
Mieze klingt komisch...vor allem ohne Kontext. :D

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