Filmfacts: «Tenet»
- VÖ: 26. August 2020
- FSK: 12
- Laufzeit: 150 Min.
- Genre: Science-Fiction/Thriller/Action
- Kamera: Hoyte Van Hoytema
- Musik: Ludwig Göransson
- Buch und Regie: Christopher Nolan
- Darsteller: John David Washington, Robert Pattinson, Elizabeth Debicki, Kenneth Branagh, Michael Caine, Aaron Taylor-Johnson, Clémence Poésy
- OT: Tenet (UK/USA 2020)
Zumindest diese Frage lässt sich vorab nicht beantworten. Aber zumindest die, ob Nolan ein weiterer Kinomeilenstein gelungen ist. Die Antwort darauf lautet: nein. Denn das erste Mal in seiner Karriere hat sich der gebürtige Brite hier vollkommen verzettelt. Da hilft ihm auch die kontinuierliche Betonung nicht weiter, dass man «Tenet» ja ohnehin nicht verstehen könne.
Zeitreisen? Nein - Inversion.
Die gesamte Welt steht vor ihrem Untergang, als ein russischer Oligarch (Kenneth Branagh) neuartige Technologie in die Hände bekommt. Um den drohenden Dritten Weltkrieg zu verhindern, begibt sich ein namenloser Ermittler (John David Washington), der sich selbst nur „der Protagonist“ nennt, auf eine abenteuerliche Rettungsmission. Dafür zur Verfügung steht ihm ein einziges Wort: Tenet. Schnell erfährt er, was es damit auf sich hat: Vor kurzem hat jemand die Entdeckung gemacht, sich die Umkehr der Zeit zu eigen zu machen. Der Vorgang nennt sich Inversion und bedeutet, dass Gegenstände sich wider ihres Ursprungszustands – also rückwärts – bewegen können. Und möglicherweise ist das auch bereits Menschen gelungen. Also nutzt der Protagonist diese Methode für sich. Ihm zur Seite steht sein Verbündeter Neil (Robert Pattinson), der mehr zu wissen scheint, als er vorgibt. Kann er ihm trauen? Und wird es den beiden gelingen, die Welt zu retten?

Im Falle von «Tenet» geht es allerdings gar nicht so sehr um die Frage, ob und inwiefern der Ablauf des hier Inversion genannten Zeitumkehr-Mechanismus überhaupt logisch ist. Sondern darum, dass Christopher Nolan seine sich selbst auferlegten Regeln permanent missachtet und es ihm somit 150 Minuten lang nicht gelingt, eine in sich schlüssige Filmwelt zu kreieren.
Wie ein Wollknäuel aus Stacheldraht

An anderer Stelle haben die widersprüchlichen Aussagen dagegen keine Auswirkungen auf das allumfassende Handlungsverständnis, lassen sich aber trotzdem als Blendwerk entlarven. Behauptungen wie diese, dass, wer sich in der Zeit zurückbewegt, plötzlich „Gegenwind im Rücken“ hat, mögen physikalisch wiederum vielleicht nicht direkt an den Haaren herbeigezogen sein (das kann man aufgrund dessen, dass die innerfilmischen Regeln permanent unterschiedlich ausgelegt werden, auch kaum beurteilen). Doch wer Gegenwind im Rücken hat, dürfte diesen zumindest nicht spüren, da sich die Bewegungsrichtungen von Wind und Mensch nicht kreuzen – doch der Protagonist solle sich darauf vorbereiten, dass sich dieses Gefühl komisch anfühlen werde. Ganz schön albern.
- © Warner Bros.
Um die gesamte Welt vor dem Untergang zu bewahren, steht dem Protagonisten nur ein einziges Wort zur Verfügung: Tenet. Seine Mission führt ihn in eine zwielichtige Welt der internationalen Spionage, in der die Gesetze der Zeit nicht zu gelten scheinen. Zeitreisen? Nein. Inversion.
Natürlich ist es einfach, einen Film, der es sich zum Kernthema macht, die Grenzen der Physik vollständig auszuhebeln, anhand seiner vermeintlichen Plotholes auszuzählen; insbesondere Nolan-Skeptiker nutzen diese Methode ja regelmäßig, um seinen Filmen die Substanz abzusprechen. Im Falle von «Tenet» geht es allerdings gar nicht so sehr um die Frage, ob und inwiefern der Ablauf des hier Inversion genannten Zeitumkehr-Mechanismus überhaupt logisch ist. Sondern darum, dass Christopher Nolan seine sich selbst auferlegten Regeln permanent missachtet und es ihm somit 150 Minuten lang nicht gelingt, eine in sich schlüssige Filmwelt zu aufzubauen.

Michael Bay würde man für so offensichtlichen Plotholes verlachen; dabei macht dieser es sich noch nicht einmal zur Aufgabe, in seinem Film physikalische Theorien aufzustellen. Christopher Nolan dagegen übt sich mit «Tenet» dagegen in wissenschaftlicher Erklärung – und darf daher in diesem Fall auch verlacht werden.
Vorwärts? Zurück? Ganz egal.
Nun ist es ja längst nicht das erste Mal, dass Christopher Nolan mit dem Thema Zeit experimentiert. Insbesondere in «Memento», «Interstellar» und «Dunkirk» spielten unterschiedliche Chronologien und relative Zeitempfindungen eine große Rolle. Da Zeit für unsereins etwas ist, das sich im echten Leben nicht variieren lässt – sie fließt eben einfach vorwärts, Sekunde um Sekunde, Minute um Minute, Tag für Tag – gehen Spielereien mit ihr nicht selten mit Mindfucks einher; Christopher Nolan hat sie perfektioniert. Es ist so gesehen nicht einmal auszuschließend, dass es für ihn sehr wohl eine allumfassend innerlogische Erklärung, eine Art Chronologie, gibt – die, glaubt man diversen Aussagen der «Tenet»-Schauspieler allerdings auch nur er zu verstehen scheint. Doch geschenkt, betrachtet man Nolan als grenzenlosen Visionär; auch ein David Lynch verschließt sich bewusst Erklärungen seiner Filme, sondern will sie das Publikum ebenfalls vornehmlich „spüren“ lassen. Doch hier kommt ein Kritikpunkt ins Spiel, der sich nicht etwa auf den Inhalt, sondern auf die Form des Films bezieht: «Tenet» ist auch abseits seiner – nennen wir es einmal freundlich: lückenhaften – Geschichte auf eine Art und Weise wirr und unausgegoren erzählt, die man nicht liebend gern durch mehrmaliges Gucken entwirren möchte (Stichwort: Lynch, Aronofsky und so weiter), sondern auf die Art, die einem den Spaß verdirbt.
Nolan wirft seinem Publikum nicht einfach nur ein verknotetes Wollknäuel zum Entwirren vor die Füße; dieses Knäuel besteht aus Stacheldraht und so vielen Einzelteilen, dass man es nach dem schmerzhaften Entwirren auch noch extra zusammenkleben muss, damit man irgendetwas davon hat. Das tut den einen mehr weh als den anderen – und wer richtig plietsch ist, trägt dabei Handschuhe und kann dabei dann sogar richtig Spaß haben. Doch wenn Christopher Nolan mit «Tenet» seine Zuschauer verliert, ist das in diesem Fall nicht die Schuld des Zuschauers, sondern des Films selbst.

Seine Aufgabe besteht darin, das Geschehen voranzutreiben – und das wars. Er erhält nicht einmal Ansätze einer Hintergrundgeschichte, was zur Folge hat, dass es einem bis zuletzt vollkommen gleichgültig ist, ob er die Ereignisse überlebt. Dasselbe gilt für sämtliche Nebenfiguren; Stars wie Michael Caine («The Dark Knight») fungieren ohnehin nur als Stichwortgeber. Kenneth Branagh («Mord im Orient Express») gibt einen passablen Schurken, der vielmehr aus seiner Rolle herausholen könnte, hätte ihn das Skript nicht mit einer Standard-Allmachts-Motivation abgespeist und Robert Pattinson («Der Leuchtturm») macht als Einziger im Cast das einzig Richtige: Und schmunzelt währen seiner Performance süffisant die leeren Phrasen weg, aus denen «Tenet» zwischen seinen (eben doch nur pseudo-?)wissenschaftlichen Ausführungen besteht. Er erhält sogar ein paar sympathisch-amüsante One-Liner und macht sich damit zum heimlichen Star des Films.
Eine technische Meisterleistung
Das waren bisher alles ziemlich harte Worte zu einem Film, den die Welt im Jahr 2020 vermutlich so sehr erwartet wie keinen zweiten. Und genau aus diesem Grund darf man die Vorzüge an «Tenet» keineswegs unter den Teppich kehren – denn wenn Christopher Nolan zu Lasten erzählerischer Kohärenz bestrebt war, ein möglichst opulentes Leinwandspektakel zu kreieren, dann ist ihm dies definitiv gelungen. Der über 200 Millionen Dollar teure Film besitze laut Nolan selbst „weniger CGI-Effekte als eine handelsübliche RomCom“ – andere Quellen wiederum sprechen sogar von „gar keine“. Was nun genau stimmt, lässt sich so auch gar nicht ausmachen, was allein schon ein riesiges Kompliment ist. Denn selbst wenn in «Tenet» Computertricktechnik zum Einsatz kommt, ist sie nicht zu sehen. Und damit ist nicht nur gemeint, dass Nolan in einer vorab besonders für Aufsehen sorgenden Szene ein echtes Flugzeug (!) hat explodieren lassen, sondern das alles, aber auch wirklich alles an «Tenet» eine Haptik besitzt, die überhaupt keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass hier tatsächlich permanent Dinge in die Luft gejagt werden.
Schade ist, insbesondere nach den spektakulären Trailern, allerdings, dass Nolan überraschend wenig damit macht, was er für «Tenet» als Unique Selling Point auserkoren hat: die in verschiedene Richtungen ablaufende Zeit. Die Momente, in denen sich Bewegungsabläufe rückwärts abspielen, sind rar gesät – und wurden leider zum Großteil für den Trailer verpulvert. Dabei wurde vorab bekannt, dass die meisten Actionszenen zweimal gedreht wurden, um sie einmal rückwärts und einmal vorwärts abspielen zu lassen. Wenn dann auch mal etwas aus diesem Mehraufwand gemacht wird, entstehen darauf spektakuläre Motive wie etwa ein in sich zusammenstürzendes Haus, das kurz darauf wieder aufgebaut wird. Doch für einen Film mit einer so einzigartigen Spielart von Zeitabläufen ist «Tenet» dann doch ein zwar hervorragend getrickster, aber eben doch konventioneller Actionfilm geworden.
Bleibt zu guter Letzt noch ein Blick auf den wohl besten Aspekt: die Musik. Der zuvor für seine Arbeit an «Dune» von «Tenet» abgesprungene Hans Zimmer überließ das Feld seinem Kollegen Ludwig Göransson («Creed II»), der auf die wuchtigen Nolan-Scores seines Vorgängers noch einen draufsetzt. Sämtliche musikalischen Motive bleiben sofort im Ohr und versehen nahezu alle Szenen mit einer treibenden Dynamik, die den Film – zumindest akustisch – auf ein völlig neues Level an Intensität hebt. Was die Figuren und die Handlung nicht vermögen, gleich Göransson im Alleingang aus. Neben der Musik präsentieren sich auch die Bilder von Nolans Stammkameramann Hoyte van Hoytema gewohnt stark, da er als einer von wenigen Kameraleuten das Selbstbewusstsein besitzt, einfach mal weiter weg zu gehen und das auf der Leinwand stattfindende Getümmel von der Ferne aus zu beobachten, anstatt sich mitten hinein zu stürzen. Nein, aus audiovisueller Sicht lässt sich «Tenet» überhaupt nichts vorwerfen. Wären derartige Qualitäten auch auf den anderen Ebenen auszumachen, wäre Nolan vermutlich einer der besten Filme aller Zeiten gelungen. So ist er nur fauler Zauber.
Fazit
Große Klappe, nichts dahinter – Christopher Nolans neuester Film «Tenet» versucht, mit einer herausragenden, technischen Inszenierung zu verschleiern, dass sich der Autor und Regisseur an der Geschichte gnadenlos verhoben hat. Das gelingt allerdings nicht, da er dies in seinem Film permanent selbst zugibt. Doch seine vermutlich selbstbewusst gedachte „Ihr werdet es eh nicht verstehen, daher fühlt es!“-Attitüde wirkt durch und durch überheblich. Zum ersten Mal in seiner Karriere hat Nolan dem Vorwurf, sein Film sei Blendwerk, nichts entgegenzusetzen. Einem Michael Bay hatte man einen Film wie «Tenet» gnadenlos um die Ohren gehauen.
«Tenet» ist ab dem 26. August bundesweit in den deutschen Kinos zu sehen.
Es gibt 16 Kommentare zum Artikel
21.08.2020 19:03 Uhr 1
21.08.2020 19:47 Uhr 2
22.08.2020 11:05 Uhr 3
Ich gehe nicht ins Kino, setze 2 Stunden die Hand an meinen Kinnbart, fummel an meiner Professorenbrille rum und überlege, wie der Regisseur denn die Szene 12 zur Szene 65 im Zusammenhang geschrieben haben könnte - nein ich gehe ins Kino, um dort etwas zu erleben, was ich so nirgendwo anders sehen werde. In diesem Fall für 25 € im IMAX ein absolutes Muss.
Wir wurden und werden alle hops genommen von Corona, nun kommt ein echtes Highlight in das sterbende Medium Kino, was uns für 2 Stunden alle anderen Sorgen vergessen lässt, das uns staunen lässt, mit den Ohren und den Augen, ja auch grübeln lässt, aber hey, dieses Erlebnis ist doch einmalig. Und da kann ich jetzt nur für mich sprechen, aber ich lasse mich da komplett drauf ein, mich berieseln, etwas (anscheinend) audiovisuell wundervolles erleben - und habe meine Freude.
22.08.2020 12:30 Uhr 4
22.08.2020 14:28 Uhr 5
Wenn der Mathelehrer meint, 2 + 2 = 5 und ich stimme dem zu, kann die Antwort dennoch falsch sein
22.08.2020 15:15 Uhr 6
22.08.2020 19:00 Uhr 7
Eine Kino Kritikerin als "falsche Journalistin" zu bezeichnen, nur, weil Sie mit der Meinung eines User's nicht konform ist, finde ich ziemlich bescheuert!!
22.08.2020 19:10 Uhr 8
22.08.2020 22:20 Uhr 9
In meinen Augen noch milde ausgedrückt! Interstellar fand ich so stinklangweilig, dass ich ihn nicht zu Ende geschafft habe. Auch Dunkirk hat mich nicht gerade vom Hocker gehauen. Wenn es also danach geht, könnten die Erwartungen kaum niedriger sein.
25.08.2020 17:04 Uhr 10