Cast & Crew
- Regie: Felix Binder
- Drehbuch: Marc O. Seng
- Kamera: Jana Lämmer
- Musik: Matthias Mania, Daniel Großmann
- Leiter SFX: Björn Friese
- Darsteller (u.a.): Cornelia Gröschel, Tim Oliver Schulz, Wotan Wilke Möhring, Nina Kunzendorf, Ralph Herforth, Thelma Buabeng
Das ZDF und Superhelden? Mit einer Superheldin? Die in einem schönen Haus vor den Toren der Stadt wohnt?
Welches Kopfkino sah nach dieser Ankündigung nicht automatisch bunte Filmstreifen aus dem ZDF-Sonntagskino, auf denen eine fröhlich lächelnde, stets top-frisierte deutsche Vorstadtmutter der oberen Mittelschicht – zwei brav erzogene Kinder inklusive – ihre Superkräfte entdeckt und ein lustiges Abenteuer erlebt. Es hat wahrscheinlich Gründe, dass die Ankündigung irgendwann in Vergessenheit geriet. Selbst in Genrefilm-Fanzirkeln, die normalerweise solche Genreproduktionen im Auge behalten, verschwand das Projekt aus dem Blickfeld.
Doch nun ist «Freaks» da. In bewegten Bildern. Aus der Meldung ist tatsächlich ein Film geworden.
Und dieser Film ist großartig!
Nein, er ist keine Antwort Deutschlands auf das „Marvel-Cinematic“-Universe. Er ist auch nicht frei von Fehlern. Aber er hat etwas, das so vielen anderen Filmen fehlt: Herz. Er ist nicht größenwahnsinnig und versucht mit einem deutschen Fernsehspiel-Budget auf Augenhöhe mit Hollywoods Blockbustern zu konkurrieren. Nein, Regisseur Felix Binder bewegt sich inszenatorisch weitestgehend auf soliden Fernsehspielpfaden – vergleichbar mit etwas höherwertigen Kriminalfilmen im Montagskino. Was die wenigen Spezialeffekte, die natürlich in einer Superheldenstory nicht fehlen dürfen, um so effektiver erscheinen lassen.
Wer ist Wendy?
Aber wer ist Wendy? Wendy (Cornelia Gröschel) ist schüchtern. Irgendetwas ist passiert als sie ein Kind war. Der Prolog verrät es. Aber er verrät nicht alles. Er verrät nur, dass Wendy noch heute als erwachsene Frau unter den Spätfolgen leidet und nach wie vor eine Therapeutin aufsucht. Allerdings hat sie ihre beiden Männer: Ihren Ehemann Lars (Frederic Linkemann), der als Schließer für ein Security-Unternehmen arbeitet. Und ihren Sohn Karl (Finnlay Berger). An sich könnte es der Familie gutgehen. Sie bewohnen ein schönes Haus in der Vorstadt (welche Stadt, das wird nie wirklich gesagt), sie lieben sich – ach ja, ist dies die heile ZDF-Welt? Mitnichten. Schulden drücken ihr Glück. Während Lars den Ernst der Situation verdrängt, leidet Wendy sehr unter ihr. Abhilfe könnte vielleicht eine Beförderung in dem Imbiss schaffen, in dem Wendy arbeitet. Der ist neben einer Tankstelle und läuft ziemlich gut. Aber ihre unsympathische Chefin Angela (Gisela Flake) lässt Wendy spüren, dass sie sie nur als Kotelett-Auflegerin betrachtet. Dies gibt sie ihr vor allem an dem Abend zu spüren, als ein Obdachloser in den Mülltonnen kramt und Wendy ihm heimlich etwas zu Essen zusteckt. Giselas Anschiss dafür lässt eine Beförderung in weite Ferne rücken.
Um so erschrockener ist Wendy als der Mann am folgenden Tag wieder auftaucht und ihr erklärt, sie sei eine von ihnen. Eine von ihnen? Auf ihrem Heimweg taucht er wieder auf. Marek (Wotan Wilke Möhring) lautet sein Name – und er weiß, dass Wendy Kräfte besitzt. Sie muss die Tabletten, die sie aufgrund ihres frühen Traumas auf Anraten ihrer Therapeutin einnimmt, absetzen. Dann werden sie wieder freigesetzt.
Superkräfte? Wendy lacht. Also beweist ihr Marek, dass er kein Spinner ist – und stürzt sich von einer Brücke. Glaubt Wendy zunächst, er sei wahnsinnig, steht er am folgenden Tag lebendig und ohne einen Kratzer wieder vor ihr.
Und so setzt Wendy ihre Medikamente ab um bald schon Veränderungen festzustellen. Sie wird selbstbewusster, sie nimmt das Leben um sich herum ganz anders wahr – und als sie eines Abends überfallen wird, schlägt sie ihre Angreifer schlicht und ergreifend zu Brei.
Was allerdings auch bedeutet, dass ihre Psychiaterin Dr. Stern (Nina Kunzendorf) mehr über sie weiß als sie zugibt. Kurzerhand bricht sie in die Praxis der Therapeutin ein, kramt in ihren Unterlagen und stellt zu ihrem Erstaunen fest, dass auch ihr Arbeitskollege Elmar (Tim Oliver Schultz) ihr Patient ist. Der Endzwanziger, der im Haus seines Vaters (Ralph Herforth) lebt, einem wohlhabenden Geschäftsmann, der ein eher reserviertes Verhältnis zu seinem Sohn pflegt, ist zwar ein Comic-Fan, Wendys Geschichte aber, dass in ihm Kräfte welcher Art auch immer existieren, will er dann doch zunächst nicht wirklich ernst nehmen. Bis er die Tabletten absetzt. Während Wendy unglaublich stark ist und Marek offenbar unverwundbar, beherrscht Elmar die Elektrizität.
Segen und Fluch
Bald allerdings muss Wendy feststellen, dass ihre Kräfte nicht nur ein Segen sind. In Marek etwa ist etwas zerbrochen, weshalb er auf der Straße lebt. Was, das wird sie noch erfahren. Sie selbst spürt, dass sie zu impulsiven Handlungen neigt, die sich nur schwer unter Kontrolle bekommen kann. Und Elmar – lebt seinen Traum. Er will ein Superheld sein. Eletric Man. Was zu einem Konflikt mit Marek führt. So nämlich, sagt Marek, funktioniert das nicht. Sie sind keine Superhelden. Sie sind einfach – anders.
Hauptdarstellerin Cornelia Gröschel macht es dem Betrachter fast schon zu einfach, ihr zu Füßen zu liegen. Selten war eine Superheldin natürlicher. Wendy darf nicht nur laut fluchen, sie darf ihre Kräfte durchaus auch eigennützig einsetzen. Ja selbst ein leichtes Anbandeln mit Elmar ist … nun ja: Eine Superheldin als Ehebrecherin? Es ist genau das, was Marek sagt: Sie sind keine Superhelden. Sie sind Freaks. Und konfrontiert mit all den äußeren Eindrücken, die auf sie herab prasseln, macht Wendy eben auch nicht alles richtig. Denn sie ist eben keine «Wonder Woman». Aber genau das macht sie so wunderbar.
Aber auch Wotan Wilke Möhring zeigt Klasse. Seine Auftritte sind wohl dosiert, in den wenigen Szenen aber, in denen er auftritt, ist er umso präsenter und porträtiert glaubwürdig einen Mann auf einer Suche. Auf der Suche nach einer Familie? Oder Erlösung? Dass es der Geschichte lange an einem Antagonisten fehlt, wie man ihn aus amerikanischen Superheldenfilmen her kennt, ist kein Makel, sondern, ganz im Gegenteil, eine Stärke des Filmes. Zwar wird relativ schnell klar, dass Wendys Therapeutin nicht ganz das zu sein scheint was sie vorgibt, aber eine klassische, sinistre Schurkin ist sie nicht. Tatsächlich ergibt sich erst langsam ein Bild von ihr. Und das ist genau so, wie es gezeichnet wird, gut.
Schwächen
Nun wurde in diesem Text bereits erwähnt, dass der Film zwar großartig, aber nicht perfekt sei. Und im Fall von «Freaks» ist es der Handlungsstrang um Elmar und seinen Vater, der zwar im Rahmen der Handlung ihren Zweck erfüllt, in der jedoch viel mehr Potenzial steckt als gezeigt wird. Da wird etwa eine Backstory angedeutet, etwas in der Vergangenheit, was Elmars Mutter vertrieben hat; das aber bleibt nur eine kurze Erwähnung, die seltsam unvollständig erscheint. Auch Elmars Superheldwerdung vollzieht sich im Grunde zu schnell. Ob dies mit der Laufzeit zu tun hat – einer ZDF-Spielfilmlaufzeit von rund 90 Minuten? Wenn andere Filme dafür Kritik einstecken, dass sie ihre Handlung zu sehr dehnen um Laufzeit zu schinden, trifft im Fall von «Freaks» eine gegenteilige Kritik zu: «Freaks» hätte gerne noch zehn oder zwanzig Minuten länger sein dürfen. Das Potenzial hätte er auf jeden Fall gehabt, und das nicht nur im Rahmen der Elmar-Geschichte. Auch die Geschichte der Therapeutin wird spürbar auf Sparflamme gekocht, auch sie bleibt im Rahmen des gerade Notwendigen, hätte aber noch weitaus mehr Inhalt vertragen können.
- © Netflix
Service-Job, Ehemann, Sohn und unterfinanzierte Doppelhaushälfte: Eigentlich führt Wendy (Cornelia Gröschel) ein ganz normales Leben in der Vorstadt.
Eine besondere Atmosphäre erschafft derweil die Musik von Matthias Mania und Daniel Großmann. Wo amerikanische Superheldenfilme mit großen Orchestern protzen können, schlagen die Komponisten Mania und Großmann einen anderen Weg ein und bewegen sich auf den Pfaden der deutschen Elektronikpioniere von Tangerine Dream und deren 80er-Soundtracks zu Filmen und Serien wie «Firestarter», «Near Dark» und «Street Hawk». Dies ergibt Bild-Ton-Symbiosen, die so wahrlich nur selten in (deutschen) Filmen zu erleben sind.
Regisseur Felix Binder und Autor Marc O. Seng haben bereits an der irrwitzigen ZDF-Comedy «Lerchenberg» zusammengearbeitet sowie an einigen Episoden der Vox-Erfolgsserie «Der Club der roten Bänder». Während Binder auch den dazugehörigen Kinofilm inszeniert hat, hat Seng bereits Netflix- Erfahrungen sammeln dürfen – und sieben «Dark»-Episoden geschrieben. So sind der Regisseur und der Autor durchaus des seriellen Erzählens fähig – und so verwundert es nicht, dass sie am Ende des Spielfilmes ein scheunengroßes Tor für eine Serien-Fortsetzung von «Freaks» offenstehen lassen. Nicht, dass «Freaks» mit einem Cliffhanger enden würde. Nein, «Freaks» ist ein in sich abgeschlossener Spielfilm mit Anfang, Mitte, Ende. Binder und Seng finden einen anderen Weg. Nur ob durch dieses Tor auch eine Serie folgen wird? Auf dem US-Markt wartet mit Sicherheit niemand auf eine kleine Superheldengeschichte aus Deutschland, deren Budget etwa dem des Caterings eines Marvel-Filmes entsprochen haben dürfte. Nein, «Freaks» muss in Europa sein Publikum finden. Dafür sollte man ihm die Daumen drücken. Auch, damit «Freaks» die Laufzeit bekommt, die die Geschichte verdient und nicht, wie im Spielfilm, hier und da die Bremse anziehen muss und auf diese Weise Potenzial verschenkt.
PS: «Freaks» hat eine Post-Credit-Sequenz!
«Freaks» ist auf Netflix verfügbar.
Es gibt 2 Kommentare zum Artikel
07.09.2020 19:24 Uhr 1
07.09.2020 20:04 Uhr 2