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Filmfacts «New Mutants»
- Regie: Josh Boone
- Produktion: Karen Rosenfelt, Lauren Shuler Donner, Simon Kinberg
- Drehbuch: Josh Boone, Knate Lee; basierend auf den Comics von Chris Claremont, Bob McLeod
- Cast: Maisie Williams, Anya Taylor-Joy, Charlie Heaton, Alice Braga, Blu Hunt, Henry Zaga
- Musik: Mark Snow
- Kamera: Peter Deming
- Schnitt: Matthew Rundell, Robb Sullivan, Andrew Buckland
- Laufzeit: 94 Minuten
- FSK: ab 16 Jahren
Dennoch taugt Eberts Faustregel als Frühwarnsystem. Die letzte Klappe zu Josh Boones «New Mutants» etwa fiel am 16. September 2017, mit einem anvisierten US-Kinostart am 13. April 2018. Es folgten zahlreiche Verschiebungen. Um dem im selben Filmuniversum angesiedelten «X-Men: Dark Phoenix» aus dem Weg zu gehen. Um Zeit für ausführliche Nachdrehs zu haben. Weil der Disney-Konzern das «New Mutants»-Studio 20th Century Fox (seither umbenannt in 20th Century Studios) aufgekauft hat und nicht wusste, was er mit dem Film anstellen soll. Und dann kam auch noch Corona. Es gibt Berge an Gerüchten, Gegengerüchten und Gegengegengerüchten. Sowie semi-handfeste Berichte, was wirklich passiert sei.
Ende August 2020 kam «New Mutants» dann endlich ins Kino – zuerst in Belgien, Spanien, Frankreich, Polen und Portugal, bald darauf in den USA. Jetzt erfolgte endlich der deutsche Kinostart. Obwohl Menschen nun, nach langem Warten «New Mutants» sehen können, ist das dominierende Thema weiterhin die Entstehungsgeschichte des Films, nicht seine Umsetzung. Das spricht Bände.
Hast du jemals etwas erlebt, von dem du sagen würdest, das war … nicht normal?
Unser Fazit zu «The New Mutants»
So schwierig die Produktionsgeschichte von «The New Mutants», so überraschend solide präsentiert sich nun das Ergebnis. Allerdings könnte der für ein junges Erwachsenenpublikum angenehm gruselige Superheldenfilm noch deutlich besser sein, hätten sich die Macher nicht auf ein allzu generisches und noch dazu mehr schlecht als recht aussehendes Spektakelfinale verlassen.Antje Wessels
we don't need no education
Die turbulente Entstehungsgeschichte von «New Mutants» hier in voller Breite nachzuerzählen, ist nahezu unmöglich. Zumal sich die Berichte derart widersprechen, dass man hoffen muss, eines Tages ein ausführlich recherchiertes Enthüllungsbuch in den Händen zu halten … Mal hieß es, dass Josh Boone zunächst einen Film im Stile des dritten «Nightmare on Elm Street»-Teils plante, von Fox aber gedrosselt wurde. Erst nach der Veröffentlichung eines schaurigen Trailers habe das Studio Boone ermuntert, unter anderem mittels Nachdrehs stärker in Richtung Horror zu gehen und seine ursprüngliche Vision zu erfüllen.
Das ist kein Krankenhaus. Das ist ein Horrorhaus.
Dann hieß es auf einmal, dass Boone gar nicht sonderlich am Horror-Element interessiert war, sondern schlicht eine etwas dunklere Mutantenversion von «Breakfast Club» plante. Es war demnach das Studio, das von Stunde null an mehr Horror haben wollte. Mal hieß es, dass Fox sich Referenzen auf das «X-Men»-Universum wünschte und Boone sie drosseln musste. Der neuste Stand, sehr lesenswert zusammengetragen von 'Vulture', besagt, dass Boone viele «X-Men»-Referenzen haben wollte und Fox die Notbremse gezogen hat.
we don't need no thought control
Der Skriptprozess soll derart katastrophal gewesen sein, dass das Duo Scott Neustadter & Michael H. Weber («Das Schicksal ist ein mieser Verräter»), das «Conjuring»-Team Chad Hayes & Carey W. Hayes, Joshua Zetumer, Seth-Grahame Smith und Scott Frank als Notfall-Skriptdoktoren heran gekarrt wurden. Und als der Film fertig war, soll jemand bei Fox gesagt haben: Wenn wir den Film in die Tonne kloppen und noch einmal neu drehen, ist es noch immer der billigste «X-Men»-Film. Doch diese in Erwägung gezogene Totalüberarbeitung wurde durch Disney abgeblasen.
Nun ist offenbar eine von Boone bevorzugte Version ins Kino gelangt. Abzüglich kleiner, von Anfang an geplanter Nachdrehs für Kleinkram wie Anschlussszenen. Gerüchteweise ohne gedrehte Anspielungen auf geplante Fortsetzungen. Und mit gedrosseltem Effekte-Budget. Angeblich. Ein Pyrrhussieg für alle Beteiligten? Möglich. «New Mutants» mag keine solche Katastrophe wie Josh Tranks «Fantastic Four» oder Kenneth Branaghs «Artemis Fowl» sein. Aber die soliden Aspekte des Films hätten bei einer glatteren Produktion gestärkt werden können. Und sie würden bei einer normalen Veröffentlichungspolitik mehr auffallen.
Letzte Frage: Weißt du, was Mutanten sind?
Wer jetzt eine Kinokarte für «New Mutants» löst, ist entweder Fan des Casts oder Marvel-Film-KomplettistIn oder Fan der Vorlage. Es gibt jetzt deutlich weniger Leute, die "einfach so" in «New Mutants» gehen als es im Normalfall gegeben hätte. Ohne Pandemie. Ohne Antihype erzeugende Verschiebungen. Ohne «Tenet» als direkten Konkurrenten. Das bedeutet: Deutlich mehr «New Mutants»-Kinogehende stoßen sich an einschneidenden Änderungen gegenüber der Comicvorlage.
no sarcasm in the classroom
So wurde aus der "rauen, aber herzigen" Illyana der Comics eine von «Glass»- und «Emma.»-Star Anya Taylor-Joy gespielte, mobbende Alltagsrassistin, die ständig passiv-aggressive und schlichtweg abstoßende Kommentare vom Stapel lässt. Dass im selben Film die Figur des Sunspot mit dem hellhäutigen Brasilianer Henry Zaga besetzt ist, obwohl es in den «New Mutants»-Comics ursprünglich ein wichtiges thematisches Element war, dass Sunspot einen dunklen Teint hat und daher Opfer von Rassismus ist, macht da im Zusammenspiel keinen guten Eindruck.
Und dass Boone in einem der raren Presseinterviews zum Film auf diese Kritikpunkte nur ein Schulterzucken parat hatte … Das wäre bei einem normalen, breiten Kinostart vielleicht eine kleinere Kontroverse, die einen Bruchteil des Publikums bewegt. Jetzt erreicht es dagegen einen großen Teil des kleinen Publikums. Also die Menschen, die sich auch wundern, weshalb derselbe Regisseur und Ko-Autor eine der «New Mutants»-Mitgründerinnen aus dem Stoff gestrichen hat – die lesbische Vietnamesin Karma. Mit diesem Wissen im Hinterkopf hinterlässt die im Film vorkommende Romanze zwischen Dani und Rahne plötzlich einen schalen Nachgeschmack …
Dagegen wirkt ein weiterer Kritikpunkt der wenigen Leute, die «New Mutants» gesehen haben, direkt zahm. Aber auch er sagt viel über den Film aus: Es fehlen einige der eindrücklicheren Szenen aus dem frühen Promomaterial – insbesondere die an «Nightmare on Elm Street» erinnernden, aus der Wand ragenden, schreienden Gesichter. Dass Trailer Szenen beinhalten, die im fertigen Film nicht vorkommen, ist meistens unbedeutend. Aber wenn ein düsterer Coming-of-Age-Film mit Horror- und Superheldenelementen, der visuell gemeinhin spröde und steif ist, eine handwerklich gut umgesetzte, effektive Horrorreferenz (ersatzlos?) streicht, tja, dann …
Ihr alle seid gefährlich.
Es mag eine traurige Erkenntnis sein. Und eine drastische. Vor allem für jene, die das, was bislang geleistet wurde, gemocht haben. Doch es kann auch eine kathartische Erkenntnis sein: Das «X-Men»-Filmuniversum geht nun mit einem kargen, plätschernden Epilog zu Ende. Es macht Platz für einen Neuanfang. Das soll die Glanzmomente nicht schmälern – und zugleich kann es das Elend, das sich durch diese Geschichte zog, endlich hinter uns bringen.
leave those kids alone
Die «X-Men»-Kinosaga wurde von einem Regisseur losgetreten, der wegen schwerer Vorwürfe des sexuellen Fehlverhaltens in Verruf geraten ist, und über den bekannt wurde, dass er einige der besten Szenen in seinen erfolgreichsten Filmen gar nicht inszeniert hat. Da hat er nämlich blau gemacht und zum Beispiel seinen Kameramann arbeiten lassen. Das «X-Men»-Franchise krachte mit «X-Men: Der letzte Widerstand» in eine Wand. Es wurde mit «X-Men Origins: Wolverine» zur Lachnummer.
leave those kids alone
Ihm gelang mit «X-Men: Erste Entscheidung» eines der beeindruckendsten Comebacks der Popcorn-Filmgeschichte. Mit «X-Men: Zukunft ist Vergangenheit» gelang ihm ein glorreicher inhaltlicher Abschluss. Doch es ging weiter, wurde mit «X-Men: Apocalypse» erneut zur Fremdschamnummer deluxe, hätte 2017 mit «Logan» seinen ehrenvollen, dramatischen, stilvollen Abschied feiern können und ist dann doch wieder in die Welt hinaus getorkelt. Die Dreharbeiten zu «Deadpool 2» kosteten ein Leben. «X-Men: Dark Phoenix» wusste nicht, ob es ein endgültiges Ende oder ein Ende mit Fragezeichen sein will. Und nun halt «New Mutants».
leave those kids alone
Das «X-Men»-Franchise hat einen höheren Status in der Popkultur erreicht, als die Summe seiner Einzelteile erwarten ließ. Es ist Zeit für Schadensbegrenzung. «New Mutants» wird in wenigen Jahren nur eine kuriose Hollywood-Fußnote im kollektiven Gedächtnis sein. Die Marvel Studios werden sukzessive Figuren aus den «X-Men»-Comics im Marvel Cinematic Universe etablieren. Ähnlich, wie Hardcore-Sam-Raimi-«Spider-Man»-Fans schwören, dass alles, was seit der Hit-Trilogie der 2000er-Jahre kam, Mist ist, wird es «X-Men»-Fans geben, die damit Probleme haben. Aber die bestehende «X-Men»-Kontinuität kann sich zur Ruhe legen. Das Kinopublikum und die Comicfans können Abstand gewinnen. Nostalgie für die guten Passagen entwickeln. Das Grauen verarbeiten. Oder vergessen. Oder besser: Daraus lernen.
leave those kids alone
«X-Men»-Franchise: Du hast viel durchgemacht. Schlaf dich aus.
«New Mutants» ist im Kino zu sehen.
Es gibt 4 Kommentare zum Artikel
13.09.2020 17:34 Uhr 1
Fakt ist allerdings, dass es bisher keinerlei Pläne gibt, die X-Men ins MCU zu führen. Kevin Feige hat dies in einem Interviwe schon gesagt. Natürlich werden durch das Multiversum in Doctor Strange 2 einige Möglichkeiten gegeben, aber bis dahin werden noch einige Jahre vergehen. Zumindest wäre es frühenstens in Phase 6. Aber bisher gibt es eben keinerlei Pläne und sowieso ist das X-Men Universum Tod! Die letzten beiden Filme brachten nicht den gewünschten Erfolg. 2019 war sowieso ein großes Franchise-Sterben, denn neben den X-Men, sind auch die Man in Black- und Terminator-Reihen endgültig zu Grabe getragen worden.
13.09.2020 18:38 Uhr 2
14.09.2020 12:13 Uhr 3
14.09.2020 12:30 Uhr 4