Die Kritiker

«Totgeschwiegen»

von

Drei Kinder aus gutem Hause bringen an einer Berliner U-Bahn-Station einen Obdachlosen um. Mit seiner Umkehr der Milieus will der Film Klischees aufbrechen, und schafft dabei nur neue.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Claudia Michelsen als Esther
Laura Tonke als Nele
Katharina Marie Schubert als Brigitte
Godehard Giese als Volker
Mehdi Nebbou als Jean
Flora Li Thiemann als Mira
Lenius Jung als Fabian

Hinter der Kamera:
Produktion: Studio.TV.Film GmbH
Drehbuch: Franzsika Schlotterer (auch Regie) und Gwendolyn Bellmann
Kamera: Bernd Fischer
Produzentinnen: Nikola Bock und Milena Maitz
Wenn man den typischen ZDF-Zuschauer fragt, wen er sich unter einem „U-Bahn-Schläger“ vorstellt, fielen bei einer ehrlichen Antwort wohl in beliebiger Reihenfolge die Buzzwords: unterprivilegiert, vorbestraft, Migrationshintergrund, Hartz IV.

Einen radikalen Gegenentwurf zu diesem Stereotyp führt der neue ZDF-Montagsfilm ins Feld, indem er bei seinem Figurenpersonal mit erstaunlicher Schonungslosigkeit die Klischees des anderen sozioökonomischen Pols unserer Gesellschaft aufzählt: Alle drei Kinder, die spätabends einen betrunkenen, urinierenden Obdachlosen zusammenschlagen und abstechen, gehen natürlich ins Gymnasium. Alle wohnen sie in besten Berliner Vierteln, entweder in schön hergerichteten Altbauwohnungen oder modischen Bauhaus-Nachbildungen. Auch wenn manche ihrer Eltern alleinerziehend sind oder in einer neuen Partnerschaft leben, sind die familiären Verhältnisse durchwegs geordnet und auffallend behütet. Die Väter sind Patentanwälte, die Mütter sind Ärztinnen oder Übersetzerinnen mit Nebenjob in einem veganen Café, wo sie Avocado-Bagel zum Cappuccino reichen. Morgens rufen sie dem Sohn hinterher, „Es ist doch noch viel zu kalt!“, wenn der im Raureif ohne Jacke das Haus verlässt, und später, als sie Kenntnis von der Tat ihrer Kinder erlangt haben, sagen sie, „Dass uns sowas passieren muss“, als sei deren Gewaltakt eine Art Naturereignis.

Denn es trifft ja immer nur die anderen. In Familien, wo die Mutter kaum Deutsch spricht und der Vater sich nachts um halb vier auf den Weg zum Arbeiterstrich in Neukölln macht, um bis zum Abend für fünfzig Euro auf irgendeiner Baustelle Zement zu schippen, ist es im landläufigen Zynismus der meisten pangesellschaftlichen Debatten irgendwie zu erwarten, dass der Sohn mal in Untersuchungshaft kommt, weil er einem Penner ein Messer in den Rücken gerammt hat.

«Totgeschwiegen» besäuft sich nun an seiner vermeintlich radikalen Vorurteilsfreiheit sowie an seiner ostensiblen Einladung an all die Latte-Macchiato-Muttis und bärtigen Prenzlauer Hipster-Papis zur eingehenden Reflexion, und scheint dabei nicht zu merken, wie es aus dem von ihm beschriebenen Oberschichtsmilieu eine ähnliche Karikatur macht wie ein infamer „Bild“-Bericht, der mit geifernder Niedertracht Straftaten von Menschen mit Migrationshintergrund für seine Stimmungsmache ausschlachtet. Denn mit der penetranten Aufhäufung der Klischees einer ihre Kinder umsorgenden und die Augen vor den Abgründen der Welt verschließenden Elite (Noch ein Avocado-Bagel! Noch ein eitel zurechtgemachter Anwaltsvater, der nachts in Fischers Kommentar zum Strafrecht blättert!) scheint es bald, als müsse das ZDF seinen Zuschauern mit Gewalt erklären, dass nicht nur Unterprivilegierte mit Migrationshintergrund Obdachlose an U-Bahn-Stationen in die Klinik prügeln.

Die bedrohliche Unterschicht wird dabei – immerhin folgerichtig – zum Kitt, der die Eltern lange in ihrer Verschwiegenheit nach außen beisammen hält: Man stelle sich mal vor, unsere Kinder würden in einer Zelle mit den abgebrühten Versagern unserer Gesellschaft landen, die ihr Leben lang nichts anderes gekannt haben als Brutalität. Deshalb: Bloß nicht zur Polizei gehen!

Um diese Konstellation glaubhaft zu machen, musste das Drehbuch neben dem Milieu aber auch einen entscheidenden Umstand an der Tat selbst ändern: Beginn der Handlungskette waren nicht die Jugendlichen, sondern der Obdachlose, der einer von ihnen aus trunkener Geistesabwesenheit am U-Bahn-Steg auf die Hand urinierte. Auch die darauf folgende Eskalation geschah allmählich, und der finale Messerstich erfolgt eher aus völliger Überforderung mit der Situation denn aus blinder Raserei. Von der sinn- und anlasslosen (!) Gewalt gegen wehrlose, benachteiligte Zufallsopfer wie in einer Real-Life-Version von «A Clockwork Orange» kann also nicht die Rede sein – womit das Kernelement fehlt, aus dem „U-Bahn-Schläger“ zu einem geflügelten Wort und zum Sinnbild für das Gefühl einer exzessiver werdenden öffentlichen Gewalt und gesellschaftlicher Verrohung geworden sind. Womit der Film ein starkes Argument gegen seine grundlegende These präsentiert, dass es bei Gewalttaten auf die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Schicht, einer bestimmten sozioökonomischen Gruppierung oder einem Milieu gar nicht so sehr ankomme.

Das ZDF zeigt «Totgeschwiegen» am Montag, den 22. September um 20.15 Uhr.

Kurz-URL: qmde.de/121490
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