Die Kino-Kritiker

«Pelikanblut» - We need to talk about Systemsprenger

von   |  1 Kommentar

Mit ihrem Debüt «Tore tanzt» hat Katrin Gebbe bereits jede Menge Nerven und Mägen strapaziert. Ihr Nachfolgewerk «Pelikanblut» steht dem Schockvalue ihres Vorgängers in Nichts nach, dabei erzählt sie eigentlich nur von einer aufopferungsvollen Mutter.

Filmfacts: «Pelikanblut»

  • Start: 24. September 2020
  • FSK: 16
  • Laufzeit: 121 Min.
  • Genre: Drama/Horror
  • Kamera: Moritz Schultheiß
  • Musik: Johannes Lehniger
  • Buch & Regie: Katrin Gebbe
  • Darsteller: Nina Hoss, Katerina Lipovska, Yana Marinova, Murathan Muslu, Sebastian Rudolph, Daniela Holtz
  • OT: Pelikanblut (DE/BUL 2019)
Ursprünglich sollte Katrin Gebbes «Pelikanblut» schon vor vielen Monaten in die deutschen Kinos kommen, fiel dann aber wie so viele andere Filme der Corona-Krise zum Opfer. Doch im Grunde kann sich die «Tore tanzt»-Regisseurin glücklich schätzen, startet ihr mit den Elementen des Horrorkinos versehenes Mutter-Tochter-Drama so doch in einem noch größeren Abstand zu Nora Fingscheidts Publikums- und Kritikerliebling «Systemsprenger». Da beide Filme im weitesten Sinne von schwer erziehbaren Mädchen handeln, liegt der Vergleich zwischen ihnen unweigerlich nahe, dabei lässt sich «Pelikanblut» eigentlich eher an anderer Stelle verorten: in einer Nachbarschaft mit Lynne Ramsays Skandalwerk «We need to talk about Kevin» nämlich, in dem nicht nur die Frage aufgeworfen wird, ob Kinder von Grund auf böse sein können oder erst durch ihr äußeres Umfeld dazu gemacht werden. Sondern in dem es auch darum geht, wie weit Mutterliebe geht, gehen kann und darf.

Wer Gebbes Erstling «Tore tanzt» gesehen hat, der kann sich denken, dass die gebürtige Ibbenbürerin auch diesmal zu radikalen Mitteln greift, um ihrer Motivation Ausdruck zu verleihen.

Eine eigentlich perfekte Idylle


Wiebke (Nina Hoss) lebt zusammen mit ihrer Adoptivtochter Nikolina (Adelia-Constance Ocleppo) auf einem idyllischen Reiterhof. Nach vielen Jahren des Wartens, bekommt sie nun die Chance ein weiteres Mädchen, die fünfjährige Raya (Katerina Lipovska), aus Bulgarien zu adoptieren. Nikolina freut sich sehr über das lang-ersehnte Geschwisterchen. Die ersten gemeinsamen Wochen als Familie verlaufen harmonisch und die frischgebackenen Geschwister verstehen sich prächtig. Aber schon bald merkt Wiebke, dass die – anfänglich charmante Raya – etwas verbirgt. Sie wird immer aggressiver und stellt eine zunehmende Gefahr für sich und andere dar. Vor allem Nikolina leidet unter ihren Übergriffen, aber auch Wiebkes Beziehungen und Freundschaften werden auf die Probe gestellt. Um ihre Familie zu retten, muss Wiebke schließlich über Grenzen gehen und eine extreme Entscheidung treffen.

Der Filmtitel «Pelikanblut» leitet sich von der mythologischen Symbolik der Pelikanmutter ab, die sich selbst die Brust aufreißt, um mithilfe ihres Bluts ihre toten Kinder wieder zum Leben zu erwecken. Die Mama opfert sich also selbst, weil ihr das Leben ihrer Kinder wichtiger ist als ihr eigenes. Dieses Motiv der mütterlichen Aufopferungsbereitschaft ist gleichermaßen selbsterklärend wie ungemein düster – und gibt damit die Tonalität vor, mit der Katrin Gebbe ihr Publikum in den folgenden 120 Minuten an die Grenzen der psychischen Belastbarkeit zu bringen versucht. Dabei geht die Autorenfilmerin bemerkenswert subtil zur Sache. Wenngleich sich Gebbe mit der Zeit immer mehr in Genrespielereien verliert und mit jeder neuen Wahnsinnstat ihres meterhohen Satansbratens Raya immer weiter ins Psycho- und Horrorkino vordringt, verortet sie die Handlung ihres Films in purer Idylle. Permanenter Sonnenschein, freigaloppierende Pferde, die liebenswürdige Interaktion zwischen Wiebke und ihrer Stieftochter Nikolina sowie Kollegen und Freunden kündigen das drohende Unheil nie an.

Wer dachte, nur Ari Aster kann „Horror im Hellen“, wie er es im vergangenen Jahr so eindrucksvoll in «Midsommar» gezeigt hat, ist schief gewickelt – «Pelikanblut» ist auf dieser Ebene mindestens genauso einprägsam und vielleicht sogar noch einen Stück subversiver. Denn in «Midsommar» hat es Aster mit seinem gleißenden Himmel, an dem trotz permanenter Sonneneinstrahlung nie die Sonne selbst zu sehen ist, fast ein wenig übertrieben. «Pelikanblut» dagegen ist mit den stilistischen Mitteln eines klassischen Feelgood-Urlaubsfilms inszeniert, weshalb die plötzliche Störung der Sommeridylle um Einiges brachialer ausfällt als in einem Setting, in dem von vornherein nichts so ist wie es sein müsste.

Von Geburt an böse?


Ab dem Moment, in dem Raya einzieht, begreift man das Mädchen mit dem eiskalten Blick als einen Fremdkörper. Dabei verhält sich die Kleine nicht von Anfang an unsozial gegenüber ihren neuen Familienmitgliedern; im Gegenteil. Zu Beginn ist Raya so zurückhaltend und eher ängstlich als schüchtern, dass einen «Pelikanblut» unweigerlich auf ihre Seite zieht, sie als Opfer der Situation wahrnimmt und ihr und ihrer Adoptivmutter einfach nur wünscht, dass sich die offensichtlich geschundene Kinderseele mit der Zeit irgendwie erholen mag. Es ist dabei nicht nur Nina Hoss‘ («Rückkehr nach Montauk») aufopferungsvoller Performance zu verdanken, dass man mit Raya und ihr gleichermaßen einem Happy End entgegenfiebert (man rafft schnell genug, dass man mit dieser Hoffnung auf ein konventionelles Ende schief gewickelt ist!). Auch in den Augen von Newcomerin Katerina Lipovska («Absentia») funkelt in vereinzelten winzigen Momenten Unsicherheit durch, die zwischen all den Schandtaten des kleinen Mädchens die Frage aufwirft, ob auch wirklich überhaupt keine Empathie in ihm schlummert, oder ob es wenigstens zeitweise realisiert – etwa über das Verhalten ihrer Mitmenschen – dass es da gerade sehr böse Dinge sagt und tut.

Dadurch verschieben sich die Sympathien in «Pelikanblut» permanent. Mit fortlaufender Filmdauer schwankt man zunehmend zwischen Mitleid für Raya, Mitleid für Wiebke, Abscheu vor Raya (und zeitweise auch vor Wiebke) und steht letztlich stellvertretend für alle Beteiligten kurz vor der Kapitulation. Das hier präsentierte Adoptivmutter-Adoptivtochter-Gefüge funktioniert wie ein Perpetuum Mobile, das sich durch den Teufelskreis aus Aggression und Konfrontation selbst in Gang hält. Dabei zuzusehen, ist schmerzhaft.

Dabei ist «Pelikanblut» trotz seiner FSK-Freigabe ab 16 nie explizit brutal. Aber man muss auch gar nicht in Großaufnahme mitansehen, wie hier ein junges Mädchen ihrer sie stillenden Mutter die Brustwarze abbeißt, um sich ein Bild davon zu machen, wozu Raya imstande ist. Ganz besonders eindringlich gerät sogar eine Szene, in der noch nicht einmal etwas angedeutet wird. Es genügt, dass Wiebke von der Mutter eines Mitschülers von Raya erfährt, dass diese sich offenbar auf brutalste Weise an ihm vergangen hat, damit sich beim Zuschauer alles zusammenzieht. Es ist auch weniger die Schwere der Gewalttaten, die einem zu schaffen macht, sondern der große Wahrnehmungskontrast zwischen dem Äußeren Rayas und dem Bösen, das in ihr schlummert. Und dann ist da ja auch immer noch die Frage, ob man überhaupt von „böse“ sprechen kann, wenn Rayas Verhalten am Ende doch körperliche Ursachen hat. Diesen inneren Zwiespalt aus Abscheu und Verzweiflung durchlebt Nina Hoss in «Pelikanblut» in einer grandiosen Tour-de-Force-Performance. Anders als der Zuschauer geht sie nicht nur emotional durch die Hölle immerwährender Rückschläge und greift für das Erreichen eines eigentlich unerreichbaren Ziels zu immer rabiateren Methoden. Sie verleiht der damit einhergehenden Verzweiflung ein Gesicht, das man so schnell nicht vergisst.

Dass man mit Wiebke als Pferdetrainerin obendrein eine symbolische Entsprechung für ihr sehr wohl vorhandenes Einfühlungsvermögen gefunden hat – mit den großen Vierbeinern kann sie umgehen, mit einem kleinen Mädchen nicht – mag ein wenig plump erscheinen. Doch in «Pelikanblut» geht es immer auch ein Stückweit um Kraft und darum, wer sie hat und was sie wirklich ausmacht. Und letztlich benötigt der Film diese scheinbar unkaputtbare Ponyhofidylle, um den großen Einfluss der Fünfjährigen zu veranschaulichen. Am Filmende werden sich derweil die Geister scheiden. Die einen werden es für der Radikalität entsprechend konsequent erachten, die anderen kritisieren, dass Gebbe damit einen Tick zu viel beantwortet, um das Mysterium rund um Raya aufrechtzuerhalten. Mutig ist ihre Entscheidung, sich endgültig dem Genrekino zuzuneigen, allemal.

Fazit


«Tore tanzt»-Regisseurin Katrin Gebbe ist mit ihrem zweiten Spielfilm «Pelikanblut» ein provokanter Mix aus «Systemsprenger» und «We need to talk about Kevin» gelungen, der mit Stilmitteln des Horrorkinos die brisante Frage aufwirft, wie weit Mutterliebe geht und überhaupt gehen darf.

«Pelikanblut» ist ab dem 24. September in den deutschen Kinos zu sehen.

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Es gibt 1 Kommentar zum Artikel
Sentinel2003
22.09.2020 11:23 Uhr 1
Ich habe jetzt erst durch deine Kritik erstmalig von diesem Film gelesen....mmmh, ob das Einen Gang ins Kino beschließt?? Keine Ahnung....

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