«Solo für Weiß»
REGIE: Maria von HelandBUCH: Kathrin Richter, Jürgen Schlagenhof
BUCHBEARBEITUNG: Maria von Heland
KAMERA: Cristian Pirjol
MUSIK: Florian Tessloff
TON: Thomas Thutewohl
PRODUKTION: Network Movie Film und Fernsehproduktion
PRODUZENTIN: Jutta Lieck-Klenke
PRODUCERIN: Polli Elsner
REDAKTION: Daniel Blum
DARSTELLER: Anna Maria Mühe, Jan Krauter, Peter Jordan, Rainer Bock, Natalia Rudziewicz, Anastasios Soulis, Hannes Hellmann, Laetitia Lauré Adrian, Klaus Pohl, Stephanie Eidt, Heinz Lieven, Leonie Wesselow
Es fällt schwer, sich nach diesem Einstieg dieser Episode zu entziehen. So endet der Prolog keinesfalls „nur“ mit dem Tod des Mädchens. Im Angesicht des Todes ist die Angst, die sie spürt, mit Händen greifbar. Nora Weiss, Tochter eines evangelischen Pfarrers, nimmt sich des Mädchens an und betet mit ihr. Während des Gebetes erschlafft der Körper der jungen Frau und die letzten Worte, die Nora für sie spricht, spricht sie für eine Tote. Die Intensität, mit der sich eine regelrechte Schlinge um den Hals der Betrachter zieht, ermöglicht es der Inszenierung, sich nun Zeit zu lassen, die Geschichte aufzubauen. Eine Geschichte, die damit beginnt, dass Nora gebeten wird, sich aus den weiteren Ermittlungen zurückzuziehen. Tatsächlich hat sie die junge Frau gekannt und hätte in dem Moment, in dem ihr dies klargeworden ist, nicht mehr am Einsatz teilnehmen dürfen. Da dies für die Geschehnisse jedoch unerheblich erscheint, baut ihr ihr Vorgesetzter eine Goldene Brücke, sich diskret zurückzunehmen.
Was Nora schwerfällt.
Marie von Wenzel. Das ist der Name des ermordeten Mädchens. Tatsächlich hat Nora sie nur flüchtig gekannt. Maria ist die Tochter einer sehr wohlhabenden, in der Kirchengemeinde ihres Vaters aktiven Familie. Nora, die sich eine Schuld für das Geschehen gibt, zieht sich dennoch aus den Ermittlungen zurück – bis diese, im wahrsten Sinne des Wortes – an ihre Tür klopfen. Da steht Silvia, die junge Frau, mit der Marie Drogen kaufen wollte. Silvia wirkt verstört, vor allem aber erzählt sie Nora alles, was diese wissen will. Davon, wie sie von Pflegefamilie zu Pflegefamilie geschubst worden ist, wie sie auf die schiefe Bahn geriet – und wie sie Marie kennenlernte, ihre erste echte Freundin. Und was hat sie Marie im Gegenzug für ihre Freundschaft gegeben? Sie hat sie in diesen Drogendeal hineingezogen. Mit dem Verkauf des Kokains wollten sie abhauen. Auch, weil es bei Marie daheim nicht so harmonisch ist, wie es aussehen mag.
Warum Silvia Nora dies alles erzählt? Weil sie Angst vor Jesper Alm hat, den Mann, der Marie in den Kopf geschossen hat. Jesper, sagt sie, sei ein Mann, den man nicht findet. Er findet einen. Statt Silvia zu verhaften, hilft ihr Nora erst einmal unterzutauchen, während sie nun eben doch in den Fall involviert ist. Auf der Beerdigung von Marie ergibt sich für sie die Möglichkeit, sowohl mit der Mutter als auch den Vater der jungen Frau zu sprechen. Während die Mutter Marie Vorwürfe macht, den Einsatz verpatzt zu haben, wirkt der Vater gefasst. Fast schon zu gefasst. Wenn Marie Fehler gemacht hat, sagt er, ist es nicht das, an was er sich erinnern will. Er will sich an seine Tochter erinnern, wie sie früher gewesen ist.
Ausstieg und Einstieg
Nora ist an einem Punkt angelangt, an dem sie einsieht, dass dies nicht mehr ihr Fall ist. Ihr Job war es, einen Drogendealer aufzuspüren. Das hat sie getan. Was danach geschehen ist, fällt nicht in ihren Zuständigkeitsbereich. Egal, wie sie sich fühlt. Dies ist nicht mehr ihr Fall. Und ja, statt auf eigene Faust weiter zu ermitteln, zieht sie sich zurück.
Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich. Verlangt es das Klischee nicht, dass sie nun als einsame Wölfin, von sozialer Kompetenz befreit, im Alleingang den Fall löst? Wie oft verstoßen in deutschen Kriminalfilmen die Protagonistinnen und Protagonisten gegen Regeln, weil sie selbst in einen Fall involviert sind? Oder sie verstoßen gegen Regeln, weil sie nur auf diese Art und Weise einen Fall lösen können? Revolutionär wäre es heute eher, einen korrekten Beamten ermitteln zu lassen, der neben seinem Beruf ein Privatleben lebt, der geschmeidig im Umgang mit anderen Menschen agiert, ja, der vielleicht sogar Dienst nach Vorschrift macht.
Allerdings ist Noras Einsicht auch ein verdammt raffinierter Drehbuchtrick, um genau das einzuleiten, was der Zuschauer eigentlich erwartet, weil er es so gewöhnt ist: Einen Solo-Trip der Ermittlerin. Doch diesen geht sie nicht freiwillig ein, denn plötzlich ist sie es, die ins Visier gerät. Ins Visier von Jesper Alm, der sein Kokain zurückhaben will, das er bei seiner Flucht zurücklassen musste. Das soll ihm Nora wiederbeschaffen. Als Druckmittel dienen ihm ihr Vater und ihre Freundin Anna (die bereits in früheren Episoden aufgetreten ist). Alm hat die beiden entführt. Wenn Nora ihm nicht innerhalb von 48 Stunden seine Drogen übergibt, werden sie sterben.
Tolle Darsteller
Anna Maria Mühe überzeugt als Ermittlerin, die als Getriebene nicht nur das Leben ihres Vaters und ihrer Freundin retten - sondern nebenbei auch noch herausfinden muss, was Silvia meinte, als sie sagte, Maries schönes Familienleben sei keinesfalls so gewesen, wie es nach Außen hin gewirkt hat. Ja, Nora verstößt gegen alle Regeln, um die Menschen, die sie liebt, zu retten. Aber sie ist nicht dumm. Irgend etwas stimmt mit Maries Familie nicht. Nora weiß, wenn es ihr tatsächlich gelingt, das Kokain zu stehlen und Jesper Alm zu übergeben, steht sie diesem nackt gegenüber. Irgend etwas an diesem Fall bereitet ihr Kopfzerbrechen. Das war nicht nur ein normaler Deal. Es muss eine Hintergrundgeschichte geben. Darüber muss sie mehr erfahren – um diese Informationen gegebenenfalls als Lebensversicherung einzusetzen.
Noras Antagonist Jesper Alm wird von dem schwedischen Schauspieler Anastasios Soulis dargestellt, der in seiner Heimat unter anderem eine wiederkehrende Rolle in der Actionserie «Johan Falk» gespielt hat und hier sein Deutschland-Debüt gibt. In seinen wenigen Auftritten hinterlässt er einen bleibenden Eindruck. Anastasios Soulis verkörpert Jesper Alm als einen kaltblütigen, berechnenden Mörder. An diesem Mann wirkt nichts wirklich menschlich. Selbst sein einnehmendes Lächeln ist doch nur eine Fassade, hinter der sich Abgründe auftun, in denen ewige Dunkelheit herrscht.
Noras Wettlauf gegen die Zeit alleine würde ausreichen, um diesen Film mit Spannung zu füllen. Und spannend ist «Solo für Weiss – Schlaflos». Definitiv gehört die bereits im Frühjahr 2019 entstandene Produktion zu den besseren Montagskrimis im ZDF. Dazu trägt auch die Kameraarbeit von Cristian Pirjol bei, die von Sachlichkeit gezeichnet ist, aber in besonderen Momenten – etwa dem Tod von Marie – starke Bilder entwirft, die die Dramatik der Situation noch einmal besonders unterstreichen. Dass «Solo für Weiss – Schlaflos» dann aber daran scheitert, ein richtig großer Kriminalfilm zu werden, ist einer gewissen Hektik geschuldet, die mit dem letzten Drittel der Spielzeit in die Geschichte einzieht. Im Grunde lässt sich die Handlung in drei Handlungsegmente unterteilen.
1.) Der verpatzte Polizeieinsatz, Noras hadern mit ihrer Rolle, ihr Rückzug.
2.) Die Entführung ihres Vaters und ihrer Freundin, Noras Wettlauf gegen die Zeit.
3.) Nora entdeckt, dass hinter dem offensichtlichen Deal mehr steckt.
Es ist keine ganz große Überraschung, dass die Geschichte ein bisschen komplexer ist als sie auf den ersten Blick erscheint. Dies ist kein Spoiler, die Hinweise werden relativ früh gelegt, um sie im dritten Drittel aufnehmen zu können. Ein Spoiler wäre es vielmehr zu verraten, um was es in dieser Hintergrundgeschichte geht. Nur soviel: In dieser Hintergrundgeschichte steckt das Potenzial eines eigenen Spielfilmes. Was Nora in knapp 30 Minuten Spielfilmspielzeit ergründen muss, ist ein komplexer, eigener Fall, in dem der Drogendeal an sich nur eine Nebenhandlung darstellt. Vor allem aber ist diese Geschichte auch richtig gut. Das ist kein Skript-Häschen, das aus einem Drehbuchhut gezaubert wird, die eine an sich simple Geschichte (Frau muss Vater vor bösen Halunken retten) mit etwas Pseudo-Handlung füllen soll, um Komplexität zu behaupten, wo gar keine Komplexität vorliegt. Nein, das ist eine richtig finstere, verdammt gut durchdachte Story – die nur leider in einem Tempo durchgepeitscht werden muss, dass sich die Frage stellt, ob «Solo für Weiss – Schlaflos» in Wahrheit ein Zweiteiler werden sollte – dessen Handlung auf einen Film kompensiert werden musste. Ganz von der Hand zu weisen, ist dies nicht, begann die Fernsehlaufbahn der Nora Weiss doch 2016 mit einem Zweiteiler («Das verschwundene Mädchen» und «Die Wahrheit hat viele Gesichter».
Indem der Film mit einem Paukenschlag endet, lassen sich die Autorinnen und Autoren immerhin eine Scheunentor große Hintertür für eine direkte Fortsetzung dieser Geschichte offen. Die nicht offen endet. Nein, der Fall wird abgeschlossen. Aber die Art, wie dies geschieht, schreit derart laut nach einem Sequel, dass dies in den Redaktionsstuben auf dem Lerchenberg in Mainz kaum überhört werden kann.
Das ZDF strahlt «Solo für Weiß» am Montag, den 19. Oktober 2020, aus.
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19.10.2020 14:39 Uhr 1