Die Kritiker

«Helen Dorn – Kleine Freiheit»

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Der Fall eines vor 14 Jahren verschwundenen Jungen in Duisburg hat LKA-Kriminalhauptkommissarin Helen Dorn nie wirklich losgelassen. Den mutmaßlichen Mörder hat sie nichts nachweisen können. Nun taucht der Name des Mannes in Zusammenhang mit einem Unfall in Hamburg auf, bei dem ein junger Mann gestorben ist. Ein junger Mann, dessen schwere Verletzungen offenbar nicht nur von dem Unfall herrühren.

STAB

REGIE: Marcus O. Rosenmüller
BUCH: Mathias Schnelting
KAMERA: Ralph Kaechele
MUSIK: Florian Tesloff
TON: Christoph Köpf
PRODUKTION: Networl Movie Film- und Fernsehproduktion
PRODUZENTIN: Jutta Lieck-Klenke
REDAKTION: Danien Blum
DARSTELLER: Anna Loos, Franziska Hartmann, Ernst Stötzner, Tristan Seith, Max Koch, Nagmeh Alaei, Sebastian Schneider, Jörn Hentschel, Samuel Weiss, Nick Dong-Sik, Mai Duong Kieu, Yu Fang
Das Trauma des deutschen TV-Ermittlers ist immer dieser eine nie abgeschlossene Fall. Da kennt man als Fernsehzuschauer die Ermittlerin Helen Dorn bereits seit 2014 und ihrem ersten Fall, «Helen Dorn – Das dritte Mädchen», aber erst in diesem zwölften Fall wird da eine Geschichte an die Oberfläche gezerrt, die sie nie losgelassen hat. Nur wenn der Fall sie immer noch bewegt, warum hat sie in all den Jahren niemals darüber gesprochen? Ja, das ist eines der ganz großen Rätsel des Ermittler getriebenen Kriminalfilmes, welches vermutlich selbst mit modernsten forensischen, digitalen und psychologischen Ermittlungsmethoden niemals wirklich gelöst werden wird.

So also wird Helen Dorn in diesem Film von gleich zwei Traumata getrieben. Zum einen hat sie den Tod ihres Vorgesetzten, Falk Mattheissen («Helen Dorn – Atemlos»), noch nicht wirklich verarbeiten können. Zum anderen taucht da plötzlich dieser Name, Ron Faber, auf ihrem Bildschirm auf. Das passiert nicht zufällig. Sie hat diesen Namen im System mit einer Meldefunktion markiert. Und plötzlich steht er da. Faber ist auf einer Brücke offenbar von der Fahrbahn abgekommen. Im Laderaum seines Kleintransporters ist daraufhin die Leiche eines jungen Mannes – offenbar chinesischer Herkunft – entdeckt worden, der augenscheinlich Verletzungen aufweist, die nicht vom Unfall stammen. Ohne Rückendeckung aus ihrer Heimatstadt Düsseldorf begibt sich Helen Dorn gen Hamburg, denn Ron Faber war der Hauptverdächtige im Fall eines verschwundenen Jungen.

Während eines Einsatzes stand da dieses Kind seinerzeit im Treppenhaus. Einfach so. Zufällig. Die Mutter zerrte den Jungen in die Wohnung zurück, dessen Verletzungen im Gesicht und an den Armen waren jedoch nicht zu übersehen. Helen informierte das Jugendamt, ein Verfahren wurde eingeleitet, der Junge zeitweise aus der Obhut der Mutter und ihres Freundes genommen. Bis ein Sachbearbeiter befand, der Junge sei bei seiner Mutter immer noch am besten aufgehoben. So kehrte er in die Arme seiner Mutter zurück und verschwand kurze Zeit später spurlos. In Verdacht, den Jungen ermordet zu haben, stand der Freund der Mutter: Ron Faber. Doch ohne Leiche verliefen die Ermittlungen im Nirgendwo.

Hinter dem Rücken des zuständigen Hamburger LKA nimmt Helen eigene Ermittlungen auf. Inklusive einer Befragung des verletzten Ron Faber, der jedoch tatsächlich einen verwirrten Eindruck macht. Angeblich leidet er aufgrund einer Kopfverletzung unter Gedächtnisverlust. Wirklich glauben will ihm Helen Dorn seine Amnesie nicht. Ganz ausschließen kann sie sie allerdings auch nicht. Durch ihr Handeln gerät sie in Konflikt mit der eigentlich ermittelnden Hamburger LKA-Beamtin Katharina Tempel. Und behält ihr Informationen vor. Offenbar hat Faber nicht nur eine kleine Wohnung, in der er alleine lebt – so etwas wie eine zweite Heimat scheint für ihn eine kleine, schäbigen Bar namens „Kleine Freiheit“ zu sein. Will man in Erfahrung bringen, womit Faber tatsächlich sein Geld verdient – offiziell ist er ein „Gelegenheitsarbeiter“ - sollte man hier auf jeden Fall einmal vorbeischauen.

Als Helen Dorn auf eigene Faust in der Bar verdeckt Ermittlungen aufnimmt, verpasst ihr ein Besucher stante pede K.O.-Tropfen. Er lässt sie jedoch vor der Bar liegen, als er feststellt, dass sie eine Polizistin ist. So erwacht Helen Dorn morgens in eine Ausnüchterungszelle als vermeintliches Alkoholopfer. Sehr zum Verdruss ihrer Hamburger Kollegin Tempel, die ihr mitteilen muss, dass Faber aus dem Krankenhaus geflüchtet ist und auf seiner Flucht einen Pfleger ermordet hat.



Wissensvorsprung
An dieser Stelle des Kriminalspiels des Zweiten Deutschen Fernsehens, erlaubt die Geschichte den Zuschauern einen überraschenden Wissensvorsprung vor den beiden Kommissarinnen. Während diese davon ausgehen, dass Faber den Mann ermordet hat, darf der Zuschauer den tatsächlichen Geschehnissen beiwohnen. Und da ist es Faber, der von dem Pfleger angegriffen wird. Die Spritze, die er dem Pfleger in den Unterleib rammt und deren Inhalt diesen tötet, ergreift er in einem Akt der Notwehr. Faber ist kein Täter, Faber ist das Opfer. Durch den Angriff erlebt Faber einen Flashback. Er sieht chinesische Männer, die im Hamburger Hafen Container säubern und dabei offenbar einem giftigen Staub ausgesetzt sind.

«Helen Dorn – Kleine Freiheit» nimmt seinen Titel sehr wörtlich. Die Geschichte nimmt sich die Freiheit, dramaturgisch einige Haken zu schlagen. So wird nach Fabers Flashback die gesamte Geschichte in eine ganz andere Richtung geschoben als anfangs vermutet. Neue Figuren werden – vergleichsweise spät – in die Story eingeführt, der ganze Ton verändert sich: Aus dem eher intimen Fernsehspiel wird ein komplexer Thriller. Das kann leicht daneben gehen, wenn der Eindruck entsteht, eine Wendung sei der Wendung wegen vollzogen worden. In diesem Fall aber funktioniert diese Wendung auf den Punkt – da es quasi ein Erweckungserlebnis braucht, um diese neue Richtung einschlagen zu können. Das Erweckungserlebnis ist der vollkommen überraschende Angriff, der nun eine komplexe Geschichte kreiert, in der nicht nur Schuld und Sühne eine Rolle spielen, sondern auch Menschenhändler ihre Finger im Spiel haben.

Abzüge in der B-Note
Wo die Geschichte einige überraschende Wendungen kreiert und vor manch einer unerwarteten Härte nicht zurückschreckt, gibt es leider Abzüge in der B-Note für zumindest die erste Hälfte des Solo-Trips der Helen Dorn. Welcher Drehbuchworkshop hat seinen Teilnehmern den Floh ins Ohr gesetzt, dass es cool wäre, in eigener Sache ermittelnde Fernsehkommissare wie von sozialer Kompetenz befreite Misanthropen auftreten zu lassen? Jeder Auftritt der Helen Dorn in Hamburg – bis zu dem Moment, in dem sie in der Ausnüchterungszelle erwacht, ist eine von maßlosem, unsympathischen Egoismus getriebene Handlung, in der sie wahlweise herablassend, überheblich oder respektlos ihren Hamburger Kollegen gegenübertritt. Womit Helen Dorn nicht alleine dasteht. Oft wird in Zusammenhang mit Figuren wie jener der Helen Dorn Eigenwilligkeit behauptet, wo in Wahrheit Selbstbezogenheit das Auftreten jener handelnden Figuren bestimmt. Natürlich könnte Helen Dorn ihren Hamburger Kollegen erklären, was sie nach Hamburg treibt. Und eine sensationelle Idee wäre es vielleicht, würde sie zugeben, nicht unbedingt offiziell zu ermitteln. Potzblitz, das wäre unerwartet. Aber nein, Helen Dorn benimmt sich wie ein Elefant im Porzellanladen, der mit seinem dicken Hintern nicht nur das Porzellan aus den Regalen reißt und laut zerscheppert, sondern dem Ladenbesitzer auch noch eine Rechnung für erlittene Knalltraumata in Rechnung stellt.

Dass die Abzüge auf die B-Note beschränkt bleiben, hat nicht nur damit zu tun, dass Helen Dorn nach dem Vorfall in der „Kleinen Freiheit“ erkennt, dass sie vielleicht doch mal den Mund aufmachen sollte. Es ist vor allem ihrer Kollegin Katharina Tempel zu verdanken. Die wird von Franziska Hartmann dargestellt. Und diese seit 2009 dem Ensemble des Hamburger Thalia Theaters angehörende Schauspielerin reißt immer wieder die Handlung an sich. Als alleinerziehende Mutter eines neunjährigen Sohnes gibt sie eine recht lässige, geduldige Ermittlerin, die mit hanseatischem Gleichmut die Arroganz der Helen Dorn erträgt – und schließlich bricht. Da um diese Katharina Tempel ein eigenständiges Ermittlerteam mit einem Partner, einem Chef und einer Forensikerin aufgebaut wird (plus einer eigenen Backgroundgeschichte mit Sohn und einem gewalttätigen Ex-Mann) – da stellt sich die Frage, ob «Helen Dorn – Kleine Freiheit» möglicherweise nicht nur ein weiterer Fall für Anna Loos in der Rolle der Helen Dorn darstellt, sondern ob dieser Film möglicherweise auch als Backdoor-Pilot für eine neue Serienhauptfigur dient, die hier quasi angetestet wird. Sollte das der Fall sein, so kann man sich nur wünschen, dass diese Katharina Tempel – Franziska Hartmann – auf den Bildschirm zurückkehrt. Gerne als Hauptfigur einer eigenen Serie, die Eigenschaften mit in ihre Rolle brächte, die anderen Ermittlerinnen und Ermittlern des ZDF-Samstags- und Montagskinos ziemlich abgeht: Geduld, Ruhe, Freundlichkeit. Gepaart mit Sinn für Humor, der in einigen Szene aufblitzt und sicher ausbaufähig wäre.

Visuell sieht das alles sehr gediegen aus, in Bezug auf die Ausstattung und seine Spielorte wird nicht gespart, die Geschichte überrascht dank unvorhergesehener Wendungen und Entwicklungen. Von den Abzügen in der B-Note abgesehen gibt es an diesem Kriminalfilm schlichtweg nichts auszusetzen.

Das ZDF strahlt «Helen Dorn: Kleine Freiheit» am Samstag, den 24. Oktober 2020, aus.

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