Die Kritiker

«Tatort – Krank»

von

Der Mord am Mitbegründer eines alternativ-medizinischen Pharmazieunternehmens führt Oberstleutnant Moritz Eisner und Majorin Bibi Fellner mitten hinein in den Glaubenskrieg zwischen Alternativ- und Schulmedizin. Ganz nebenbei begibt sich eine kolumbianische Terroristin auf einen Rachefeldzug. Klingt krachend. Ist das aber auch packend?

STAB:

DARSTELLER: Harald Krassnitzer, Adele Neuhauser, Thomas Stipits, Günter Franzmeier, Dominik Warta, Christian Schiesser, Toni Slama, Sona MacDonald, Marianne Nentwich, Sabine Timoteo, Erik Jan Rippmann, Till Firit, Peter Raffalt

REGIE und DREHBUCH: Rupert Henning
KAMERA: Josef Mittendorfer
SZENENBILD: Maria Gruber
MUSIK: Kyrre Kvam
PROUZENTEN: Peter Wirthensohn, Tomm Pridnig
REDAKTION: Bernhard Natschläger, Andrea Zuhlehner (ORF)

Österreich / Deutschland 2019/20
Peter Simon heißt der Mann, der vor einem Wiener Gerichtsgebäude überfahren wird. Ein Unfall ist ausgeschlossen, denn es ist doch ziemlich unwahrscheinlich, dass jemand angefahren wird, der Fahrer (oder Fahrerin) anhält und dann „versehentlich“ noch einmal zurücksetzt und das Unfallopfer ein zweites Mal überrollt. Hier hat jemand ein Mord begangen. Kaltblütig, brutal, in aller Öffentlichkeit. Durch die getönten Fensterscheiben des schweren SUVs ist der Täter (oder die Täterin) auch auf Videoaufzeichnungen nicht zu erkennen, der Wagen wird etwas später abgestellt in einer Waschanlage gefunden. Die Fenster weit geöffnet, ausgewaschen.

Eisner und Fellner brauchen nicht lange um ein mögliches Motiv für die Tat zu ergründen. Peter Simon hat mit einem gewissen Jan Fabian ein sehr erfolgreiches, der alternativen Medizin verpflichtetes Pharmaunternehmen gegründet, das nicht nur homöopathische Mittelchen verkauft. Das Unternehmen überschreitet in seiner ganzheitlichen Menschseins-Ideologie die Grenzen zur Sekte, in der Fabian als Gesicht des Unternehmens als eine Art Guru seine Produkte an den Mann und die Frau bringt. Am Tag seiner Ermordung ist Peter Simon in einem Prozess freigesprochen worden, der den Tod seiner eigenen Tochter betrifft. Seine kleine Tochter ist an einer schweren Krankheit gestorben, die Simon – bis kurz vor ihrem Tod – mit den eigenen Medikamenten behandelt hat. Homöopathischen Medikamenten, die nicht anschlugen. Erst als seine kleine Tochter ins Koma fiel, alarmierte er einen Notarzt, der dem Kind aber nicht mehr helfen konnte. Im Prozess wurde nun der Frage nachgegangen, ob er fahrlässig gehandelt habe?

Und diese Frage wurde verneint.

So durfte Peter Simon das Gericht als freier Mann verlassen, um nur wenige Minuten später gelyncht zu werden. Und nichts anderes ist dieser Mord, sind sich Eisner und Fellner sehr bald sehr sicher. Ein Akt der Selbstjustiz, ausgeübt von Maria Ana Moreno, seiner Ex-Frau, die untergetaucht ist, nachdem sie nicht nur ein Kontaktverbot zu ihrer Tochter erhalten, sondern auch noch einen Polizisten, der sie am Betreten ihres Hauses gehindert hat, zusammenprügelte. Ja, die zierlich wirkende Frau hat einen Polizisten verprügelt, denn sie hat, wie bereits eingangs erwähnt, eine Vergangenheit. Ana war Angehörige einer kolumbianischen Miliz. Die wird zwar als Terrororganisation betrachtet, allerdings ist niemals ein Haftbefehl gegen sie von der kolumbianischen Regierung erwirkt worden. Ihren Mann hat sie in Kolumbien kennengelernt, als der dort kurzzeitig studierte; in gewisser Weise ist Ana unterm Radar nach Österreich gelangt, wo sie sich nie etwas hat zu Schulden kommen lassen und ein unauffälliges Leben führte. Bis ihre Tochter erkrankte.



Die Relevanz der Woche
Ach je, das gesellschaftlich relevante Thema der Woche ist in diesem «Tatort» also die „alternative Medizin“. Was sicher nicht uninteressant aufbereitet wird. In einem parallelen Handlungsstrang nämlich werden immer wieder Ausschnitte eines ORF-Interviews mit einem ehemaligen Angestellten von Simons und Fabians Unternehmen eingestreut, der nun regelrecht ausgestiegen und bereit ist, vor laufender Kamera über Vorgänge im Unternehmen Auskunft zu geben, die ihn strafrechtlich selbst belasten können. Interessant an diesem Handlungsstrang ist die Tatsache, dass dieser Aussteiger im Grunde vor allem die geschäftlichen, profitorientierten Interessen des Unternehmens in den Mittelpunkt rückt – während es sich die Handlung selbst nicht so einfach macht, was ihr hoch anzurechnen ist. Tatsächlich billigt diese Handlung vor allem dem Mordopfer zu, an „die Sache“ geglaubt zu haben. Dieser Peter Simon ist eben, wie sich nach und nach aus der Handlung ergibt, kein gieriger Blutegel, der Zuckerkügelchen verkauft hat.

Als studierter Anthropologe ein Menschenkundler, wird er als ein Suchender charakterisiert. Ein Suchender nach Antworten des Lebens. Dieser Peter Simon ist nicht nur ein Täter (auch wenn er vom Gericht freigesprochen werden mag, trägt er dennoch eine moralische Schuld am Tod seiner Tochter): Peter Simon ist eben auch ein Opfer. Das Opfer eines fehlgeleiteten Glaubens. Ihn als einen selbstverliebten Geschäftemacher darzustellen – wäre einfacher gewesen. Die Story geht hier den harten Weg und bietet eine große Interpretationsfläche für die Charakterisierung dieses Menschen. Umso bedauerlicher, dass dieser Charakter gleich zu Beginn von einem Großstadtpanzer überrollt wird. Was wiederum die allgemeine Frage in den Raum stellt, warum der «Tatort» als Sendereihe nicht mehr in der Lage ist, sich eines gesellschaftlich relevanten Themas ohne eines deftigen Mordes anzunehmen? So wird die interessanteste Figur der Geschichte gleich zu Beginn aus dem Leben in den Tod katapultiert, damit sich die ermittelnden Beamten dem gesellschaftlich relevanten Thema – dem Geschäft mit der alternativen Medizin – widmen dürfen. Jenseits von Corona-Zeiten, darf man durchaus annehmen, hätte sich im Anschluss an die Erstausstrahlung sicher noch eine «Anne Will»-Sendung mit der Thematik auseinandergesetzt, um die Relevanz zu unterstreichen. Und solch eine Auseinandersetzung funktioniert offenbar nur mit Mord Und Totschlag. Scheint man bei der ARD und ORF zu denken...

Hölzern
Leider wirkt vieles in diesem «Tatort» hölzern. Die vielleicht interessanteste Figur stirbt gleich zu Beginn, seine Geschäftspartner indes sind Klischees, Abziehbilder. Der Guru, die gewiefte Guru-Ehefrau im Hintergrund, der Vertraute. Keine dieser Figuren kann wirklich Tiefe entfalten. Sie bleiben – Ideen. Unvollständig. Durchaus funktional. Aber doch frei von Überraschungen. Was sich eben auf die Dramaturgie auswirkt, weshalb Tricks angewendet werden, um künstlich Spannung zu erzeugen. Etwa wird als Prolog das Ende des Filmes gezeigt, in dem ein unbekannter Mann den offenbar unter Betäubungsmitteln stehenden Eisner eine Waffe in die Hand drückt, seinen Finger auf den Abzug legt – und diesen nicht nur abdrücken lässt. Nein, eine Frau wird von den Kugeln getötet.

Dramatischer lässt sich solch ein Krimi eigentlich gar nicht beginnen. Nur kann die Geschichte aus diesem Anfang keinen Mehrwert schöpfen. Zu sehr folgt die Story bekannten Pfaden, zu wenig Figurenzeichnung lässt sie zu. Selbst der Kniff, dass Maria Ana Moreno im Grunde eine Terroristin ist – ist kaum von Belang. Ja, sie kann mit Waffen umgehen und durchaus einen größeren Mann verprügeln. Es gibt aber auch andere Mittel und Wege, solche Skills zu erlernen. Im Grunde ist die Terrorismusgeschichte eine einzige Nebelkerze, die eine Größe behauptet ohne in sich tatsächlich groß zu sein. Dafür ist Ana zu sehr Nebenfigur. Ein Eigentor stellt dabei die Tatsache dar, dass man in Maria Ana Moreno die Frau erkennt, die Eisner – unfreiwillig – erschießt. So steht ihr Schicksal von Anfang an fest. Der Schock, dass die Mutter stirbt, die ihr Kind nicht retten konnte, wird durch einen Spoiler vorweg verraten, der der Story viel von ihrer Spannung nimmt.

Gute Darsteller
Immerhin: Harald Krassnitzer, der nun seit 1999 in Wien ermittelt, und seine Partnerin Adele Neuhauser werfen sich geschickt die Bälle zu und stellen in einer Welt voll dysfunktionaler Serien-Charaktere eine wohltuende Ausnahme als einander vertrauendes und vertrautes Team dar. Der heimliche Star der Episode ist Dominik Warta, der in der Rolle des Verfassungsschützers Gerold Schubert in die Welt von Eisner und Fellner zurückkehrt, nachdem er 2017 im «Tatort: Schock» sein Debüt gegeben hat. Schubert hat im Rahmen seiner Tätigkeit Maria Ana Morena einige Zeit lang überwacht, konnte allerdings nicht mehr tun, da, siehe oben, kein Haftbefehl vorlag und sie als Ehefrau eines österreichischen Staatsbürgers ein unauffälliges Leben führte. Warta stellt Schubert als eine Art von Typen dar, der auf seine Weise an der Dummheit der Welt verzweifelt und ihr mit einer großartigen Mischung aus Lakonie und Beamtenarschigkeit entgegentritt. In seiner Figur steckt Potenzial, das gerne auch in einem eigenen Kriminalfilm ergründet werden dürfte.

So ist dieser «Tatort» dank der Hauptfiguren und einer nicht ganz uninteressanten Geschichte über alternative Medizin und ihre Nebenwirkungen nicht wirklich schlecht. Aber er ist eben auch nicht gut. Er hat einige gute Momente, und er hat Momente, in denen er sich mit seinen Ticks, um künstlich Spannung zu erzeugen, selbst im Wege steht.

Das Erste strahlt den «Tatort» am Sonntag, den 25. Oktober 2020, um 20.15 Uhr aus.

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