Serientäter

«Harrow» – Australiens Antwort auf «Quincy»

von

Der geniale Gerichtsmediziner ist ein Liebling des televisionären Kriminalspiels. Er vermischt die Beobachtungsgabe eines Sherlock Holmes mit der Heilkraft eines Halbgottes in weiß. Auch Daniel Harrow ist so ein Typ. Der geht im australischen Queensland auf Mörderjagd und das höchst erfolgreich. Nun ermittelt er auch auf deutschen Bildschirmen. Lohnt sich ein Blick?

Stab

PRODUZENTEN: Leigh McGrath, Tracey Robertson, Nathan Mayfield
KAMERA: John Stokes, Simon Chapman, Robert Humphreys, Mark Wareham
IDEE und DREHBÜCHER: Stephen M. Irwin, Leigh McGrath
MUSIK: Matteo Zingales
DARSTELLER: Ioan Gruffudd, Mirrah Foulkes, Jolene Anderson, Remy Hii, Ana Lise Philips, Darren Gilshenan, Damien Garvey, Uli Latukefu
Australien 2018
Mit Ioan Gruffudd ist dem australischen TV-Sender ABC auf jeden Fall ein Besetzungscoup gelungen. Der walisische Schauspieler, der als Mr Fantastic in den «Fantastic Four» 2005 international bekannt wurde, gehört vielleicht nicht zu den ganz großen Namen des Filmbusiness, aber doch zu den viel gebuchten. Ob der Katastrophenreißer «San Andreas» oder dem jüngst erschienen Actionkracher «Code Ava»: Gruffudd ist gut im internationalen Geschäft. Ob Hollywood-Blockbuster oder eine BBC-Hochglanzserie wie «Liar»: Gruffudd spielt in der internationalen Liga, dort, wo Filme und Serien in den globalen Vertrieb gehen und daher Gesichter gebucht werden, die international bekannt sind. Da überrascht der Schritt in Richtung Australien, denn trotz hochprofessioneller Produktionsstrukturen, die entstanden sind, da amerikanische Studios wie Warner aus Kostengründen Produktionen gen Australien verlagert und dadurch eine Filmlogistik erschaffen haben, die der klassischer Filmnationen wie Frankreich oder Großbritannien in nichts nachstehen → spielen rein australische Produktionen – und dies gilt für Kinofilme als auch TV-Serien – international nur in der zweiten Liga. Da lohnt es sich dann natürlich für australische Produzenten, etwas tiefer in die Tasche zu greifen und einen Namen zu engagieren, der Aufmerksamkeit erregt. Wenn durch dieses prominente Gesicht mehr potenzielle Lizenznehmer erreicht werden können, hat sich der finanzielle Mehraufwand für den Hauptdarsteller gelohnt. Film, in welcher Form auch immer, ist halt ein Geschäft.

Allein muss der angefragte Hauptdarsteller auch wollen.

Im Fall von Ioan Gruffudd ist davon auszugehen, dass ihn die australischen Produzenten ködern konnten, indem sie die Show ganz auf ihn zugeschnitten haben. Ioan Gruffudd ist «Harrow». Er ist nicht nur die Hauptfigur Dr. Daniel Harrow, er ist de facto omnipräsent. Im Grunde ist Gruffudds Daniel Harrow ein Dr. House in der Person eines geschmeidigen Sonnyboys. Der Unterschied zwischen Harrow und House: Harrow mag Menschen. Er ist sogar ein äußerst empathischer Mensch, wenn es darum geht, den Toten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Auf der anderen Seite jedoch hasst Harrow sämtliche Formen von Hierarchien und Kollegen lässt er gerne seine Brillanz spüren – von oben herab. So wie seinen gerichtsmedizinischen Widerpart Dr. Lyle Fairley, der sicher gerne Chefpathologe anstelle des Chefpathologen wäre, der aber durchaus an Harrows Arroganz auch zu leiden hat. Denn Harrow neigt zu Arroganz, wenn er davon überzeugt ist, im Recht zu sein. Und da er meist im Recht ist, zelebriert er diese Arroganz auch sehr gerne.

Der Fall der eingefrorenen Leiche
Am Anfang der Serie steht ein Ende. Dr. Daniel Harrow hat in gewisser Weise die Nase voll von seinem Job. Vor ihm liegt ein toter Clown. Der Kinder sexuell missbraucht hat. Nun hat es ihn selbst erwischt und das Mitleid des Gerichtsmediziners hält sich in Grenzen. Daher weigert er sich, die Autopsie vorzunehmen. Die soll sein Kollege machen, er hat Besseres zu tun. Etwa sich mit seiner Tochter Fern zu versöhnen. Was zwischen ihm, seiner Ex-Frau und Fern vorgefallen ist, wird lange ein Geheimnis bleiben. Fern jedoch macht zurzeit mehr als nur eine schwere Phase durch. Sie wohnt teilweise auf der Straße, die entzieht sich dem Zugriff ihrer Eltern, sie bestiehlt gar ihren Vater, um ein wertvolles, historisches Skalpellset bei einem Pfandleiher zu Geld zu machen. Geld das sie braucht, um über die Runde zu kommen. Was Daniel Harrow sogar akzeptiert. Um sich bei seiner Tochter zu entschuldigen – er scheint an der Situation nicht ganz unschuldig zu sein – bietet er ihr einen Deal an. Er kündigt (zumindest lässt er sein Arbeitsverhältnis ruhen), dafür segeln sie zusammen nach Bora-Bora. Daniel lebt auf einem Boot im Hafen von Queensland. Er muss nur die Anker lüften und es geht los. Nur er und Fern. Wie in glücklicheren Zeiten.

Während sich Fern auf die Reise vorbereitet und Harrow tatsächlich seine Kündigung einreicht, lernt er den Vater einer jungen Frau kennen, die vor fast einem Jahr bei einem Unfall ums Leben gekommen ist. Da sich ihr Vater geweigert hat, die Papiere zu unterschreiben, mmit denen die junge Frau zur Beerdigung hätte freigegeben werden können, liegt ihr Körper seit einem Jahr eingefroren in der Leichenhalle. In wenigen Tagen ist sie exakt ein Jahr tot und damit darf die Polizeibehörde ihren Körper auch ohne Einwilligung des Vaters zur Beerdigung freigeben. Was bedeutet: Sie wird verbrannt. Ihr Vater jedoch ist sich sicher, dass seine Tochter keinen Unfall gehabt hat. Ihr Freund, ein reicher Makler, hat sie umgebracht. Harrow schaut sich den Autopsieberichte an um festzustellen, dass es an diesem auf den ersten Blick nichts auszusetzen gibt. Auch die Leichenschau ergibt in dem Sinne keine Erkenntnisse, die dem Bericht widersprächen. Nur eine Kleinigkeit ist dann eben doch zu bemängeln: Die Feststellung, dass die junge Frau an einem Unfall gestorben ist. Die Wunde, die zum Tod führte, kann durch einen Unfall verursacht worden sein. Die Wahrscheinlichkeit ist sehr, sehr hoch. Aber sie beträgt keine 100 Prozent. Da trifft es sich gut, dass der Vater das Apartment, in dem seine Tochter starb, seit ihrem Tod nicht mehr betreten hat. Harrow entschließt sich, das Apartment einmal genauer in Augenschein zu nehmen.



Wohin die Reise geht
Die Richtung der Kriminalfälle wird in dieser ersten Episode bereits vorgegeben und sie unterscheidet sich von anderen Serien, in deren Mittelpunkt ein Gerichtsmediziner steht, nicht. Harrows Jagdrevier ist eben nicht nur sein gerichtsmedizinisches Labor. Harrow zieht es hinaus in die Welt (oder ins Umland von Queensland), um selbst nach Spuren Ausschau zu halten, die der Polizei möglicherweise entgangen sind. Mit seinem angeborenen Talent, Menschen wütend zu machen, greift er gerne in die Ermittlungen der eigentlich zuständigen Beamten ein. Dabei wird er von seiner Chefin und Leiterin der Forensik, Maxine Pavich, gedeckt. Parallelen zur Ur-Mutter, oder besser gesagt, dem Ur-Vater aller Krimiserien, in deren Mittelpunkt Gerichtsmediziner stehen, «Quincy», sie sind nicht zu übersehen:

• Maxine Pavich ist niemand anderes als die australische Version des Dr. Robert Asten, der 148 Episoden lang als Vorgesetzter von Dr. Quincy dessen Solo-Trips tadeln musste – ihn aber gleichzeitig an der langen Leine laufen ließ, da er um seine Beobachtungsgabe wusste.
• Dr. Quincy, der zwischen 1976 und 1983 ebenfalls auf einem Boot lebte, eckte zwar oft und gerne bei Kollegen an, eine Ausnahme aber gab es: Sein Assistent Sam Fujiyama. Dem entspricht in «Harrow» Simon van Reyk, der trotz seines Namens ein Mitglied der ostasiatischen Gemeinde von Queensland ist und als junger Pathologe von Daniel Harrow nicht nur protegiert wird. Im Grunde ist er der einzige Kollege, dem Harrow stets auf Augenhöhe gegenübertritt.
• Quincy wurde stets nur mit seinem Nachnamen angeredet. Harrow wird nur von seiner Ex-Frau Daniel genannt.

Die Parallelen zwischen Quincy und Harrow dürften wohl nicht ganz zufällig sein. Im Jahr 2018 jedoch, in dem diese erste Staffel entstand, reicht es allerdings nicht aus, einen Gerichtsmediziner auf Räuberjagd gehen zu lassen. Da ist der Konflikt mit seiner Tochter, der natürlich am Ende der ersten Episode nicht gelöst wird, sondern eine Zuspitzung erfährt, da Harrow natürlich nicht mit ihr gen Bora-Bora aufbricht. Und da ist eine Leiche, die am Ende der ersten Episode in einem unter Naturschutz stehendem Gewässer entdeckt wird. Wer immer die Leiche hier versenkt hat, hat mehrfach vorgesorgt. Die Leiche wurde beschwert, damit sie am Grund verbleibt. Der Ort als solch ist für Fischer tabu, ihre Entdeckung ist daher auch ein purer Zufall, den der Täter dennoch bedacht hat: Er hat die Leiche derart präpariert, dass alle Spuren, die an ihrem Körper kleben und den Täter verraten könnten, zerstört worden sind. Wer immer die Leiche hier versenkt hat – hat vielleicht schnell handeln müssen (sonst hätte es sicher noch bessere Möglichkeiten gegeben, sie loszuwerden). Aber in der Kürze der Zeit, in der er offenbar handeln musste, hat er mit irritierender Professionalität gehandelt.

Man sollte nun meinen, dass solch ein Fall für einen Mann wie Daniel Harrow eine besondere Herausforderung darstellen würde, dem aber ist nicht so. Der Grund wird den Zuschauern nicht vorenthalten und in einem Rückblick offenbart: Er ist der Mann, der die Leiche hier versenkt hat. Die Frage lautet demnach: Ist er auch der Mörder und wenn ja, warum hat er dies getan?

Ioan Gruffudds Spiellaune ist bemerkenswert. Britische Schauspieler überraschen sehr oft durch eine irritierende Wandlungsfähigkeit. Die britische Bühne ist nicht nur das große Shakespeare-Drama, das britische Theater verfügt auch über eine lange komödiantische Tradition. Kaum eine Form des Schauspiels, heißt es auf den britischen Bühnen, sei schwieriger als die Darstellung der Leichtigkeit. Leichtigkeit entsteht durch Tempo, Bewegung, Wortwitz. Im Grunde verkörpert Ioan Gruffudd die Tugenden der britischen Bühnenleichtigkeit. Sein Spiel ist von Tempo bestimmt, Monologe zischt er mit einer Schärfe aus, dass der Shakespeare der Phase der widerspenstigen Zähmung entzückt wäre. Glück hat die Serie darüber hinaus in Person der australischen Schauspielerin Mirrah Foulkes, die in ihrer Heimat vorwiegend in TV-Produktionen aufgetreten ist, bislang aber, abgesehen von der Mitwirkung in einer Mediziner-Soap, vorwiegend für Nebenrollen gebucht wurde. Sie ist Sergeant Soroya Dass, eine neue Polizistin vor Ort. Indem Hallows Charakter von Anfang an den handelnden Figuren bekannt ist, braucht es die Neue. Die, durch deren Augen das Publikum Hallow erlebt. Nicht nur diese Rolle erfüllt sie mit Bravour, ihr Charakter selbst ist durchaus humorvoll angelegt, so dass sie die Möglichkeit hat, gegen den alles überstrahlenden Waliser in der Titelrolle tatsächlich anzuspielen. Daraus entwickelt sich ein ganz klein wenig ein Screwball-Gefühl, wie es eine Serie wie «Castle» in der Welt des Kriminaldramas etabliert hat. Dass die beiden schließlich auch Sympathie füreinander empfinden, wirkt dementsprechend nie behauptet, sondern nur logisch.

Dem Lob folgt die Kritik
Den Positiva stehen leider eher mäßige Geschichten gegenüber. Zwar ist es originell, wenn im zweiten Fall etwa ein mittelalterlicher Bogen zum Einsatz kommt oder im dritten Fall auch ein Krokodil eine wichtige Rolle spielt: Die die Storys als solche aber bieten eine übersichtliche Anzahl an handelnden Personen und da in jeder Episode die Beziehung von Harrow zu seiner Tochter irgendwie behandelt werden muss, fehlt am Ende eigentlich immer Zeit für eine wirklich ausgearbeitete Kriminalgeschichte. Wie überhaupt die Schwere der Beziehung zwischen Vater und Tochter wie ein bleierner Schatten über den ansonsten lockeren (manchmal makaberen) Ton der Serie liegt. Sicher, es gibt kurze Momente, in denen auch das Kriminaldrama rockt: Um genau zu sein ist es Episode 7, «PiaMater», die Geschichte eines tödlichen Verkehrsunfalls, bei dem in der Leiche eines jungen Mannes eine Kugel im Kopf entdeckt wird – die dort jedoch seit 20 Jahren steckt. Die Hintergründe zu der Kugel – sind originell, so wie auch die Auflösung, in der die Geschichte des Autounfalls geklärt wird, der in einem direkten Zusammenhang zu der Kugel steht. Das ist clever, ergreifend, überraschend.

«Harrow» ist am Ende daher leider ein zweischneidiges Vergnügen. «Harrow» ist klasse gespielt, sieht gut aus, überzeugt in seinen eher lockeren Momenten als eine leicht konsumierbare Krimiserie, die aber immer wieder dann schwer im Magen liegt, wenn der familiäre Konflikt in den Mittelpunkt des Geschehens tritt.

Im Rahmen dieser Kritik wurde nur die erste Staffel gesichtet. Die zweite Staffel wird in der australischen Kritik gemeinhin als düsterer beschrieben, was, Spoiler, nach dem Ende der ersten Staffel durchaus Sinn ergäbe. Nicht vergessen: Daniel Hallow lässt gleich zu Beginn der Serie eine Leiche verschwinden. Dass diese Geschichte nicht unbedingt fröhlich endet, dürfte kaum eine Überraschung darstellen.

Interessant im Rahmen der internationalen Vermarktung ist im Fall von «Harrow» die Tatsache, dass sie in Deutschland keine Exklusivvermarktung bei einem Streamingdienst erfährt. Die erste Staffel steht Abonnenten von Amazon Prime, Joyn+, TVnow und Sky Ticket / Sky Go frei zur Verfügung. Staffel 2 steht zum Kauf (Einzelepisoden oder die ganze Staffel) bei iTunes, Google Play (nur englischer Ton), Videoload, Amazon und maxdome bereit. Eine dritte Staffel befindet sich in der Produktion, die Dreharbeiten mussten allerdings aufgrund der Corona-Pandemie und den strikten Lockdown-Regeln in Australien unterbrochen werden.

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