Der Pixar-Film «Soul» hat uns mit seiner aufmunternden, heiteren, lebensbejahenden Geschichte über einen amerikanischen Jazzmusiker in einer Sinnkrise nach einem harten Jahr zu den Weihnachtsfeiertagen wirklich gut getan. Doch wenn es nach vielen Filmkritikern gegangen wäre, hätten wir ihn gar nicht sehen sollen. Ihre Reaktionen auf die Ankündigung von Disney, den heiß erwarteten Streifen zu den Feiertagen auf dem hauseigenen Streaming-Dienst zu veröffentlichen, anstatt das Ende der Pandemie abzuwarten, um ihn im Kino zeigen zu können, waren nämlich hauptsächlich von Missmut geprägt. Ein ähnliches Echo hatten im Sommer bereits die Veröffentlichungspolitik von «Mulan» und die Auswertung des neuen Christopher-Nolan-Epos‘ «Tenet» nach sich gezogen, ebenso wie die Ankündigung von Universal, seine Filme auch in Zukunft nicht immer exklusiv ins Kino zu bringen. Die fast einhellige Meinung der entsetzten Kinoliebhaber und -betreiber: Aus Gewinnsucht lassen die milliardenschweren Studios die Kinos sterben, und das ist einfach nur ätzend.
An dieser Argumentation ist natürlich vieles schief – allen voran die seltsame Mischung aus Glorifizierung und Untergangsstimmung, die dem Kino als Medienkonsumform entgegengebracht wird. Das Kino, so heißt es, könne nur durch Exklusivität attraktiv gehalten werden, sprich: dadurch, dass Inhalte zunächst ausschließlich in Lichtspielhäusern gezeigt werden und erst viel später als Home-Video-Variante verfügbar gemacht werden. Denn wenn es die Filme gleichzeitig oder sogar früher bei einem Streaming-Dienst gäbe, bevor sie im Kino liefen, dann würde ja niemand mehr ins Kino gehen, weil sich alle den Film in den eigenen vier Wänden ansehen möchten. Und das wäre ja furchtbar, denn dann stirbt das Kino als Ort des Filmerlebnisses.
Was diese Denkweise aber verkennt: Wenn man argumentiert, dass sich eine bestimmte Vorführ- oder Rezeptionsform (Kino) nur am Leben halten lässt, indem man die Zuschauer zwingt, sie zu nutzen, anstatt sie selbst wählen zu lassen, wo und wie sie sich ihren Film ansehen möchten (zuhause oder im Kino oder sonst wo), dann hat man den Kampf doch schon verloren. Denn in der Gängelung der Konsumenten wird nicht die Zukunft liegen.
Schließlich setzt diese Argumentation gedanklich voraus, dass die erste Präferenz der meisten Menschen der Konsum in der heimischen Streaming-Variante wäre und nicht der Gang ins Kino. In dieser Logik gehen die Meisten also nicht wegen des Gemeinschaftserlebnisses ins Lichtspielhaus, sondern hauptsächlich, weil sie den neuesten Film sehen wollen, und könnten sie den neuesten Film auch in den eigenen vier Wänden sehen, blieben sie daheim und die Kinos wären leer.
Darauf könnte man einmal ganz unverblümt antworten mit: Na und? Dann war es das eben mit dem Kino.
Aber die ganzen Jobs, die am Kino hängen, werden jetzt manche schreien, und den Autor dieses Texts wahrscheinlich gleich als neoliberales Ungeheuer verunglimpfen. Doch dann müsste man im selben Atemzug auch die Transformation hin zur Elektromobilität verhindern. Denn weil in Elektroautos keine austauschbaren Verschleißteile verbaut sind und auch kein Motoröl gewechselt werden muss, wird der Aufstieg der Elektromobilität über kurz oder lang zwangsläufig zu einem massiven Rückgang an KFZ-Werkstätten führen – immerhin ein Industriezweig, an dem in Deutschland Zehntausende Arbeitsplätze hängen. Die Service-Kräfte im Cinemaxx befänden sich also in guter Gesellschaft, auch im historischen Sinne: Oder gibt es hier jemanden, der die elektrische Befeuerung von Straßenlaternen rückgängig machen will, weil sie vor hundert Jahren die Laternenanzünder in die Arbeitslosigkeit getrieben hat, die seitdem nicht mehr allabendlich durch die Straßen ziehen dürfen, um das Petroleum anzuzünden?
Aber das großartige Kulturgut Kino, werden jetzt die anderen schreien, die uralte Tradition, in trauter Gemeinschaft denselben Traum zu träumen und dabei Popcorn zu essen. Das Kino als Ort der Begegnung, des Austauschs, der Gemeinsamkeit. Ein romantisches Bild. Doch in der ureigenen Argumentation der Streaming-First-Skeptiker wollen die meisten Menschen genau das ja nicht mehr (sonst bestünde, wie gesagt, ja überhaupt keine Gefahr für das Aussterben der Begegnungs- und Konsumform Kino). Sie wollen abends zuhause in Jogginghosen den neuen Nolan gucken, und nicht mehr nach der Arbeit durch die halbe Stadt gurken, um sich an Popcorn-Ständen durchzuschlagen, bevor sie in abgewetzten Sesseln zwischen Smartphone-Zombies und Quatschtanten auch die Schattenseiten menschlichen Zusammenseins in Dolby Surround erleben müssen.
Was den Kinomuffeln aber noch mehr in die Hände spielt als die Notwendigkeiten der Filmveröffentlichung unter Pandemiebedingungen, ist der technische Fortschritt: Musste man vor zwanzig Jahren noch ein Vermögen für einen Flachbildfernseher mit einigermaßen ansehnlichem Bild ausgeben, könnte man heute seine Einfahrt damit pflastern. Aus sündhaft teuren DVDs, damals ein Riesenevolutionsschritt von der ästhetischen Zumutung der Videokassette, ist ein Router an entlegener Stelle in der Wohnung geworden, der jedes gewünschte Bewegtbild immateriell auf einem beliebigen Bildschirm erscheinen lässt. Dabei sind wir heute im Jahr 2021 genauso wenig am Zenit der Unterhaltungselektronik angekommen wie vor vierzig Jahren, als VHS und Betamax den Kampf um eine längst vergangene Zukunft ausfochten. Die Abspielgeräte werden noch besser und noch billiger werden, und das Heimkino damit immer weniger Euphemismus für eine etwas übertriebene Ausstattung an privaten Abspielgeräten, sondern: Realität.
Noch viel weiter in die Zukunft gedacht, werden sich Kulturforscher anno 2121 vielleicht wundern, dass viele Menschen vor hundert Jahren noch durch Regen und Schnee gestapft sind, sich um Parkplätze prügeln mussten und überteuerte Preise für Knabberzeug gelöhnt haben, nur um sich den neuesten Film ihres Lieblingsregisseurs anzusehen, auch wenn es technisch schon lange möglich war, sich die ganze Odyssee zu sparen und ihn sich stattdessen mit ausgewähltem Publikum an einem beliebigen Ort zu selbst gewählten Bedingungen zu gönnen, alles aus einer falsch verstandenen Nostalgie heraus.
Und zum Schluss ein kleines Friedensangebot an die Freunde des Lichtspielhauses. Ich bin mir nämlich sicher: Das Kino wird es auch in hundert Jahren noch geben. Genauso, wie es heute Menschen gibt, die lieber Oldtimer als den BMW iX fahren, oder die, wenn sie von Chicago nach Los Angeles wollen, nicht ins Flugzeug steigen, sondern die Route 66 runterdonnern. Sie hat ja auch ihren Charme. Doch in die Zukunft führt sie genauso wenig wie das Kino.
Es gibt 11 Kommentare zum Artikel
25.01.2021 13:59 Uhr 1
25.01.2021 15:22 Uhr 2
Mehr in Richtung Pop-up Kino. Ein großer Raum mit Bestuhlung, ein etwas leuchtstärkerer Beamer, ein paar Boxen und eine einfache und angemessene Lizenzierung der Filme für den Betreiber, fertig ist das Programmkino. Statt die Rollen durchs Land zu schicken und aufwendige Vorführtechnik vorzuhalten, wird alles digitaler. Entweder wird direkt gestreamt oder der Film kommt von der handelsüblichen BD/UHD-BD.
25.01.2021 15:33 Uhr 3
Und ganz ehrlich: Mir graut davor, dass ich künftig für den neuen Peter Jackson Film erst ein Abo von Disney+ abschließen muss (und möglicherweise obendrauf noch VIP-Zuschlag), den neuen Christopher Nolan aber nur bei Netflix zu sehen bekomme und am Ende mit einem Berg von Streaming-Abos dasitze und trotzdem nicht alle Filme sehen kann, die mich interessieren, weil ich dann auch noch Joyn oder sonstwas bezahlen müsste.
Da verlasse ich doch liebend gern mein Sofa, kämpfe mich durch Schneestürme (Bewegung an der frischen Luft hat ohnehin noch nie geschadet), um im Kino meines Vertrauens (in dem ich auch vor Smartphone-Zombies sicher bin) mich ganz dem Filmerlebnis hingeben zu können, weil hier definitiv alle Störungen, die es im heimischen Alltag zwangsläufig geben kann und wird, ausgeblendet sind.
Vielleicht ist es nicht um jedes Kino schade, das die Pandemie nicht überleben wird, und ob es bei einem Auswertungsfenster von sechs Monaten bleiben muss, kann man auch diskutieren, trotzdem hoffe ich, dass so viele Kinos wie möglich erhalten bleiben. Und gezwungen hat mich auch noch niemand, in ein Kino zu gehen. Außer meine eigene Ungeduld und Neugier.
25.01.2021 15:37 Uhr 4
25.01.2021 15:51 Uhr 5
da waren es Theaters u.ä. auf Jahrmärkte und Co.
Wer schreit heute danach bzw. wie viele von eins haben Ihren Job dabei verloren.
Das Kino wird sich reformieren müssen und evtl. einiges an Umdenken, statt Blockbusters, Lizenzen die sich wenige leisten können, und damit schon etliche Kino ausstarben und kleinere Kinofilme kaum Chance erhielten, den die Blockbuster Lizenzen müssen erst nach x-Wochen eingespielt werden.
Also auch was gutes, vergessen sollte man auch nicht. Nicht jeder wird sich alle Streaming Dienste zulegen um den einen Film sich anschauen zu wollen. Also wird Er/Sie ins Kino gehen.
25.01.2021 16:30 Uhr 6
26.01.2021 00:09 Uhr 7
26.01.2021 00:50 Uhr 8
Jedes mal, wenn darüber geredet wird, wieso weshalb warum, sieht man, dass es natürlich ganz unterschiedliche Gründe gibt, warum Leute nicht mehr ins Kino gehen, weshalb ich keine Argumentation in schlüssig oder unschlüssig eingliedern würde.
So wie das Auto seine Anziehungskraft als Statussymbol verloren hat, so verliert wohl auch das Kino seinen Mythos als ewige Event-Show einer älter werdenden Generation. Ich persönlich sehe da auch keinen Rückweg. Die älter werdende Bevölkerung ist nun mal nicht die Hauptzielgruppe von für junge Menschen gemachte Blockbusterfilme und die junge Generation zieht es einfach, ohne genaue Zahlen zu kennen, weshalb ich das mal so behaupte, nicht mehr so da hin, wie uns damals. Zumindest von den jüngeren, die ich kenne, ist "ins Kino gehen" irgendwo hinter einem neuen Handy, Geld fürs Zocken und Social Media Geschichten.
Wenn ich an Streaming denke, dann denke ich auch gar nicht mehr an Filme. Ich glaube Serien scheinen heute die neuen Events geworden zu sein oder diese entwickeln sich da hin. Zumindest hab ich bei Serien wie "The Mandalorian" mehr das Gefühl, dass das für Wallungen sorgt, als so mancher Star Wars Film, der in den letzten Jahren im Kino lief und ich denke, dass solche Serien-Events in Zukunft auch immer häufiger die Schlagzeilen dominieren werden, weil man heute einfach nicht mehr ins Kino muss, um high-premium zu sehen.
Wäre natürlich nett, wenn so ein paar Kinoklitschen noch offen bleiben würden. Ehrlich gesagt würde ich hin und wieder auch für ältere Filme ins Kino gehen, wenn ich dafür nicht gleich wieder mein halbes Monatsgehalt ausgeben muss.
26.01.2021 03:01 Uhr 9
Vollste Zustimmung! Ach ich würde noch lieber den Rest meines Lebens durch hohen Schnee stapfen und oder durch Regengüsse um mir geniale Filme im Kino an zu gucken, als diese NUR auf Netflix zu sehen!!
26.01.2021 10:10 Uhr 10
Ich will Festivalprogramm in nem guten Kino nicht missen und bei allem, was ein Heimkino mittlerweile bieten kann, ein gut ausgestattetes Kino kann das technisch immer noch schlagen. Aber dann muss man's eben auch wirklich gut machen und nicht unbequeme Flugzeugsessel bieten, von denen man eher ein Fernglas für die Leinwand bräuchte, das einem aber vom Scheppern der Boxen aus der Hand geschlagen wird.
Was nicht mehr ziehen wird: Kino als soziales Event. Kino als einzige Möglichkeit, die neuesten heißen Scheiß zu sehen. Kino als Rundum-Sorglos-Paket mit Fressbude und Putzservice.
Spannend wird sein, was mit dem Programm in Zukunft passiert. Ich kann mir immer noch nicht so recht vorstellen, dass Streaming die teuren 200M+$ Blockbuster in der gewohnten Zahl tragen kann. Die Hürde, einen Streaminganbieter zu abonnieren ist viel kleiner, der Preis aufs Programm gerechnet viel kleiner und Streaming profitiert viel mehr davon, Produktionsbudget in möglichst viel Content zu verwandeln statt in eine Handvoll Leuchtturm-Filme. Ich kann mir genauso wenig vorstellen, dass die Blockbuster-Zeit zuende geht. Was definitiv schon in vollem Gange ist, ist die "Franchisesierung". Jeder baut sein eigenes Universum und erzählt vor allem immer mehr Geschichten daraus. Allerdings braucht es darin erst recht keine übertrieben teuren Blockbuster mehr.
Wobei man sagen muss, dass Streaming-Anbieter das Format "Serie" massiv in stark Richtung "Film" verändert haben, weil es in seiner ursprünglichen Form überhaupt nicht zum Geschäftsmodell passt. Streaming-Serien sind heute punktuelle Ereignisse von überschaubarem Umfang mit durchgehender Handlung, die ihre Fortsetzung mit Pausen von bis zu zwei Jahren erfahren, selten über mehr als drei Instanzen. Das ist mittlerweile viel näher an der klassischen Kino-Trilogie als an der klassischen TV-Serie.