Denkt man an Indien als Filmland, fällt einem zuerst Bollywood ein. Ein Synonym für die Hindi-Filmindustrie in Mumbai, bekannt für billig heruntergekurbelte Musik- und Liebesfilme, die meist der reinen Unterhaltung dienen und für die höheren Kasten des indischen Hierarchie-Systems. Doch mit der indische-amerikanischen Koproduktion «Der weiße Tiger» ist nun ein Film entstanden, der völlig aus dem Rahmen fällt, was man bisher aus Indien gewohnt war.
Nach dem Bestsellerroman Aravind Adiga ist unter indischer Regie ein packendes Sozialdrama entstanden, das mit einer guten Geschichte ein realistisches Abbild der indischen Gesellschaft gibt. Es ist eine bitterböse Kritik an das diskriminierende Kastensystem des Landes. Ein Hindu ist von Geburt bis zum Tod einer Kaste zugehörig, ein Aufstieg ist nicht möglich. Ganz oben sitzen die Brahmanen, Geistliche und gelehrte, gefolgt von den Kshatriyas, also Fürsten, Krieger und höhere Beamte. Anschließend kommen die Vaishyas, zu denen Bauern und Kaufleute gehören. Shudras sind jene, die den höheren Kasten dienen müssen. Unter ihnen stehen nur noch die Unberührten, quasi der menschliche Abschaum in Augen eines Hindu. Sie sind vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen, dürfen aber laut indischer Verfassung von 1950 wie auch Shudras nicht diskriminiert werden. Die Wirklichkeit sieht jedoch anders aus wie «Der weiße Tiger» klarstellt.
Vom geschundenen Chauffeur zum geschätzten Taxiunternehmer
Wie konnte aus einem armen Diener ein reicher Taxiunternehmer werden? In Indien unmöglich, denn hier herrscht das Kastensystem, indem man hineingeboren wird und es kein Entrinnen gibt. Auch Balram Halwai (Adarsh Gourav) glaubt zunächst, dass er auf die Welt gekommen ist, um zu Dienen. Bis ihm die Augen geöffnet wurden, und so beginnt Balram rückblickend seine Lebensgeschichte zu erzählen, die damit beginnt, dass er in eine Familie hineingeboren wird, die unter ärmlichsten Bedingungen in einem Dorf leben. Jeder Versuch von Balram, etwas Besseres aus sich machen zu wollen, wird von seinen Eltern und Großeltern untergraben. Balram muss sich seinem Schicksal ergeben, so will es der Glaube.
Doch der junge Mann schafft es eine Anstellung als Chauffeur bei einem Großgrundbesitzer zu bekommen. Er nimmt alle Erniedrigungen und Beschimpfungen seines Herrn hin, nur dessen Sohn Ashok (Rajkummar Rao) und seine Ehefrau Pinky (Priyanka Chopra) behandeln ihn mit mehr Respekt. Das Paar repräsentiert das moderne Indien, Pinky hat sogar in den USA gelebt und kann dem indischen Kastensystem nichts abgewinnen. Doch das Blatt wendet sich, als Pinky im betrunkenen Zustand von Balram verlangt, selbst das Auto zu steuern. Dabei überfährt sie ein Kind, das sofort tot ist. Balram soll dafür die Schuld übernehmen, und wie selbstverständlich unterschreibt er das Geständnis. Insgeheim macht er sich jedoch erstmals darüber Gedanken, dass an der Sache etwas faul ist. Er beginnt, sich zu wehren und schreckt dabei auch nicht vor Taten zurück, die ihm zum Verhängnis werden könnten.
Ein bitterböser Blick auf das menschliche Dasein
Ohne jetzt zu viel verraten zu wollen, schaut man sich «Der weiße Tiger» mit westlichen Moralvorstellungen an, was nichts anderes heißt als dass am Ende die Gerechtigkeit siegen muss. Darauf wartet man über zwei Stunden lang. Gerechtigkeit für den Protagonisten, der permanent erniedrigt, geschlagen und verraten wird. Und als er sich mit den Waffen der Herrschenden selbst befreit, empfindet man das ebenso als verwerflich und wünscht sich von Balram Besserung und die Erkenntnis, dass es im Leben nicht auf Macht und Reichtum ankommt.
In diese Richtung würde es Hollywood und Bollywood lenken, nicht aber Regisseur Ramin Bahrani («Fahrenheit 451»), der sich sehr genau an den Roman seines Freundes Aravind Adiga hält und in einer Szene sogar einen Satz fallen lässt, dass es kaum möglich sein wird, bei einer TV-Show Millionär zu werden und seiner niedrigen Kaste damit entfliehen zu können. Eine direkte Anspielung auf Danny Boyles versöhnlichen Indien-Märchen «Slumdog Millionär», dass so gar nichts mit «Der weiße Tiger» zu tun hat, der viel mehr eine bitterböse Abrechnung mit Indiens Gesellschaftsstruktur sein will - und das ohne Umschweife, dafür aber mit ganz viel bissigem Humor.
Eye of the Tiger
Der von Adarsh Gourav großartig gespielte Balram Halwai muss die Dinge anders als in «Slumdog Millionär» also selbst in die Hand nehmen, um in einem kranken System zu überleben. Er lernt es nicht anders als andere auszuspielen, um sich nicht die Butter vom Brot nehmen zu lassen. Da geht es auch um Machtkämpfe innerhalb einer niedrigen Kaste, aber das ist gar nichts gegenüber der Gier, Korruption und Doppelmoral in den höheren Kasten. Der Protagonist beobachtet und kopiert, um selbst dorthin zu kommen, wo Reichtum und Wohlstand herrscht.
Seine Erkenntnis kommt ihm übrigens als er im Zoo einen weißen Tiger besucht. Ein wunderschönes Tier, der eingesperrt in einem Käfig hin und herläuft. Sein Blick aus stahlblauen Augen strahlen Verachtung und Wut aus. Er will raus und leben. Balram wird in diesem Moment klar, dass er ganz genauso fühlt, es sich bisher aber nicht gestattete, weil er dachte, er müsse sein Schicksal annehmen. In Wirklichkeit fühlt er sich in seiner Kaste aber ebenso eingesperrt wie der Tiger im Käfig. Eine Metapher, die auch westliche Zuschauer annehmen können und womöglich auf ihr eigenes Leben übertragen können. Aber auch die westliche Zivilisation bekommt am Ende des Films noch einen tüchtigen Seitenhieb. Denn in unserer Welt geht es gar nicht so viel anders zu als in Indien. Gesellschaftliche Rangordnungen, das Treten nach unten, die Anhäufung von Geld auf Kosten der Armen – das alles gibt es auch bei uns.
Fazit: Ein vielschichtiger Film, mal Komödie, mal Drama, in dem sich die Ereignisse überstürzen. Gnadenlos, faszinierend und alles andere als versöhnlich – der derzeit beste Film aus Indien.
«Der weiße Tiger» ist bei Netflix zu sehen.
Schreibe den ersten Kommentar zum Artikel