Interview

Dr. Christian Bräuer: ‚Das Kino stand schon oft vor neuen Herausforderungen‘

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Der Vorsitzende des Verbandes AG Kino ist sich sicher, dass ohne die Kuration der Kinos Filme wie «Parasite» nicht funktioniert hätten. Streamingdiensten steht Dr. Bräuer offen gegenüber, allerdings bemängelt er die Algorithmen, die Dienste wie Netflix nicht offen legen.

„Kino leuchtet. Für Dich:“ – unter diesem Slogan gingen am Sonntag, den 28. Februar, bundesweit in allen Kinos innen und außen die Lichter an. Damit will die seit vier Monate am Lockdown leidende Branche ein Zeichen setzen – an die Menschen, die endlich wieder Kultur brauchen, und an die Politik, um eine Öffnungsperspektive zu erhalten. Unterstützt wird diese Aktion natürlich auch von der AG Kino, ein Verband, der die Interessen der Filmkunsttheater vertritt. Wir sprachen mit dem Vorsitzenden Dr. Christian Bräuer, der gleichzeitig Geschäftsführer der Yorck Kino GmbH ist, um Perspektiven, Veränderungen und die Zukunft der Orte, wo Filmeschauen immer noch am Schönsten ist.

In Deutschland sind die Kinos bereits seit November 2020 geschlossen. Wird sich die Branche jemals wieder erholen können?
Langfristig gesehen bin ich durchaus optimistisch. Wir alle wissen, dass die Welt nach der Pandemie eine andere ist. Momentan ist der Filmmarkt, was die Kinos betrifft, jedoch noch komplett paralysiert. Denn nicht nur in Deutschland, sondern in vielen Teilen der Welt einschließlich in weiten Teilen der USA sind die Kinos noch geschlossen, während es bei den Streaming-Diensten weitergeht. Da verschiebt sich natürlich einiges.

Das klingt erst mal besorgniserregend…
Das Kino stand aber schon oft vor neuen Herausforderungen. Zuerst das Aufkommen des Fernsehens, danach kam die Videokassette, dann die Internetpiraterie und jetzt sind es die Streaming-Dienste. Trotzdem hatte sich das Kino in den letzten Jahren vor der Pandemie sehr gut behaupten können.

Die Streaming-Dienste können das Kino also nicht gänzlich ersetzen?
Das Kino hat einen unverwechselbaren Vorteil, und das ist der analoge Raum in einer digitalen Zeit. Das ist voraussetzungsvoll, weil es natürlich teuer ist wie etwa der Erhalt der Gebäude. Man muss viele Leute zur gleichen Zeit am selben Ort haben, aber das Geschichtenerzählen im öffentlichen Raum ist ein großes Bedürfnis, dass es gab und gibt. Das wird durch die Pandemie und die Digitalisierung nicht hinweggespült. Das schafft Kultur und passt zur menschlichen DNA.

Kino bleibt also Königsklasse?
Man wird auch nach der Krise mit Kino auch Geld verdienen können. Ich glaube, da wird es weiterhin ein Interesse geben, denn dort, wo man Geld verdienen kann, wird es immer Spieler geben, die dort Geld verdienen wollen. Wenn wir zurückblicken auf 2019, solche Phänomene wie «Parasite» oder «Systemsprenger» hätte es im Onlinebereich niemals gegeben.

Was macht Sie da so sicher?
Weil diese Filme jenseits der Algorithmen-Logik sind, jenseits von «Star Wars» und Superhelden-Filme. Solche Filme haben auf analog stattfindende Festivals und im Kino immer noch die beste Chance für Sichtbarkeit und damit auf einen Erfolg in den weiteren Verwertungsstufen. Kino ist immer noch die Herzkammer, und dieser Optimismus treibt mich an.

Tatsächlich kann man feststellen, dass kleinere Filme in der Masse der Streaming-Angebote schlichtweg untergehen und zudem kaum beworben werden…
Man muss sich fragen wie funktioniert eine Streaming-Plattform. Sie wird von Algorithmen gesteuert, die wir nicht kennen. Da gibt es gewiss wirtschaftliche Interessen der Plattformen, die wir nicht mitkriegen. Am Schluss sieht die Masse dann doch das gleiche oder wir sehen uns auf den Plattformen wieder die Serien an, die wir aus dem Fernsehen kennen. Das ist eine Desorientierung und die Streaming-Dienste stehen damit vor allem im Wettbewerb mit dem Fernsehen, weil ich beides Zuhause von der Couch aus mache. Das Kino indes bedient etwas komplett anderes und ist deshalb auch nicht nur irgendeine Wiedergabe-Plattform für Filme.

Viele finden es vielleicht bequemer, von der Couch alles selbst bestimmen zu können…
Es spricht nichts dagegen und in der Pandemie sind wir alle froh, Dinge bestellen zu können, per Videoschalte Freunde und Familie mal sehen können und ein breites Angebot an Filmen und Serien zu haben. Das macht es alles leichter, aber es ist etwas anderes. Der Lieferdienst ersetzt nicht den Restaurantbesuch und genauso lässt man sich auch im Kino ganz anders auf einen Film ein. Da lässt man sich auf Filme ein, die man sich im Streaming-Dienst vielleicht niemals ansehen würde.

Aber zumindest würde die Möglichkeit bestehen, oder?
Irgendwann sind sie vielleicht auf den großen Streaming-Plattformen, aber oft nur ganz schwer zu finden. Filme, die auf eine Plattform einfach nur raufkommen, dort aber nicht weiter beworben werden und von den Algorithmen nicht belohnt werden, verschwinden mit minimalen Klickzahlen in den Weiten des Internets. Ein Film braucht Sichtbarkeit und Relevanz. Denn Kunst, die nicht gesehen wird, existiert nicht. Erst durch die Betrachtung und Rezeption wird sie lebendig – und das schafft Kino.

Wann rechnen Sie denn mit einer Wiedereröffnung der Kinos?
Als die Kinos im November schließen mussten, war das für uns sehr schmerzlich. Kinos und andere Kulturräume waren ganz sicherlich nicht die Treiber der Pandemie. Das ist frustrierend und zermürbend, und das schon seit vier Monaten. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch die Pandemie-Entwicklung. Ich wurde gefragt, warum wir nicht noch mehr auf die Barrikaden gehen. Da kann ich nur antworten, dass ich keine Räume öffnen kann, wenn sie nicht auch wirklich sicher für Beschäftigte und fürs Publikum sind. Wir hoffen aber, dass sich die positive Entwicklung fortsetzt und wir spätestens im April wieder da sind.

Würde es denn genügend neue Filme geben, um Kino fürs Publikum wieder attraktiv zu machen?
Es gibt etliche Filme, die auf ihren Kinostart warten. Etwa «Der Rausch» mit Mads Mikkelsen, für mich wirklich der beste Film des letzten Jahres, oder «Nomadland» mit Frances McDormand, der Gewinner des Goldenen Löwen bei den Internationalen Filmfestspielen von Venedig 2020. Es wäre schade, wenn solche Filme komplett vorbeiziehen würden. Mit jeder Woche, in der Kinos geschlossen bleiben, werden Filme entwertet. Die Film-Flut wird größer, aber die Kapazitäten der Kinos werden nach der Wiedereröffnung dieselben sein.

Was wäre die Alternative?
Viele Filmschaffende wollen wegen der unveränderten Kraft der Kinos auf die große Leinwand. Der Gang zur Streaming-Plattform ist für sie keine Alternative. Worst case für diese Werke wie uns Kinos wäre natürlich eine dritte Welle und die weitere Schließung der Kinos bis zum Frühsommer hinein.

Das wäre fatal…
Ja, das wäre eine absolute Katastrophe. Natürlich hat die Pandemie-Bekämpfung oberste Priorität. Doch hat gerade die Kultur dafür von Beginn an einen starken Beitrag geleistet. Und gerade deshalb dürfen wir als Kulturorte und Kulturschaffende mit einer gewissen Ungeduld sagen, dass es wichtig ist, die Strategie der Pandemie-Bekämpfung nochmals zu schärfen und im Zusammenspiel aus Impfung, Tests und Kontaktverfolgung zu Lockerungen zu kommen. Wir haben bewährte Hygienekonzepte, Studien belegen die hohe Sicherheit unserer Räume und Kontaktverfolgung funktionierte schon im letzten Jahr exzellent. Das muss angerechnet werden und die Kulturorte frühestmöglich geöffnet werden.

Wie gut haben für Ihre Branche die Förderprogramme funktioniert?
Förderungen sind natürlich gerade absolut essenziell für die Kinos und privaten Kulturräume. Zum Glück ist da einiges passiert, Neustart Kultur war und ist ein wichtiges Programm. Auch etliche Länder haben sich stark engagiert, bei uns in Berlin haben der Senat und Medienboard viel für die Kultur getan. Leider hakt es bei den allgemeinen Wirtschaftshilfen. Wir verlieren jede Woche Geld, doch die November-Hilfen haben die meisten Kinos bis heute nicht erhalten. Existenziell für viele ist, dass es jetzt wie angekündigt schnell gehen. Denn auch die Überbrückungshilfen 3 hinterlässt Lücken bei den Betrieben.

Welche Rollen könnten dabei die Lüftungsanlagen in den Kinos helfen?
Dazu gab es jetzt einige Studien, die sagen, dass eine Aerosolinfektion im Kino äußerst unwahrscheinlich ist. Die Leute sitzen im Theater auf festen Plätzen, schauen nach vorn und reden nicht. Daher sollte man sich in einer Wiedereröffnungsstrategie darauf festlegen, Kino, Theater und Museen mit als Erste wieder zuzulassen, weil sie nicht zu einem weiteren Anstieg führen werden. Diesen Stufenplan brauchen wir dringend. Sollte wieder alles schlimmer werden, wird jeder dieser Orte Verständnis haben, wenn sich die Öffnung verzögert. Alles andere wäre auch schwer zu vermitteln. Denn wir haben starke Hygienekonzepte und sind flexibel genug, uns auch neuen Anforderungen anzupassen.

Vielen Dank für das Gespräch.

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