Die Kritiker

«Gefangen»

von   |  2 Kommentare

Auf dramatischen Pfaden bewegt sich die ARD-Produktion «Gefangen». Ein Polizist wird durch einen Unfallemotional aus der Bahn geworfen. Er entwickelt eine regelrechte Obsession für das Leben der Opfer, während ihm sein eigenes Leben entgleitet.

Stab

REGIE und DREHBUCH: Elke Hauck
KAMERA: Patrick Orth
MUSIK: Tobias Wagner
DARSTELLER: Wolfram Koch, Antje Traue, Sebastian Schwarz, Godehard Giese, Susanne Wuest, Anna Böger, Lenny Altaras, Lila Liefers, Marel Perin, Thomas Lawinky
Die Nacht auf einer Landstraße irgendwo in Sachsen könnte für die Polizisten Harry und seinen jungen Kollegen René langweiliger kaum verlaufen. Es gibt schlicht nichts zu tun. Da kommt ihnen ein Autofahrer, der sich nicht direkt an die Geschwindigkeitsbegrenzung hält, gerade recht. Dabei verläuft die Kontrolle äußerst freundlich. Harry kommt mit dem Fahrer ins Gespräch, es wird auf eine angenehme Art persönlich, man verabschiedet sich mit einem Lächeln. Auch der Tag beginnt angenehm. Harry besucht mit seiner Frau Ellen (und seinem Kollegen René) eine Hochzeitsfeier, man hat zusammen Spaß. Irgendwann ruft jedoch der Dienst und die beiden Polizisten machen sich auf den Weg zu ihrer Wache. Um auf diesem Weg Zeugen eines schrecklichen Unfalls zu werden. Ein Wagen kommt von der Straße ab und überschlägt sich auf einem Feld. Harry kommt den Insassen, einer vierköpfigen Familie, zu Hilfe. Die Frau ist aus dem Wagen geschleudert worden und bereits tot als er ihren Puls fühlt. Der Mann jedoch und zumindest eines der beiden Kinder auf der Rückbank leben noch. Doch sie sind eingeklemmt. Harry handelt schnell, besonnen, er löscht ein Feuer, das im Motorraum ausgebrochen ist, er kann den Wagen aufbrechen. Die Tragödie verhindert aber kann er nicht mehr. Der Fahrer stirbt in seinen Armen und auch das Mädchen, das sich noch bewegt hat als er kam, ist tot.

Eine vierköpfige Familie. Ausgelöscht.

Harry erkennt in dem Fahrer den Mann von der Verkehrskontrolle der Nacht zuvor.

Regisseurin Elke Hauck erlaubt der Kamera keine Schwenks. Dicht bleibt die Kamera an Harry verhaftet; obwohl die Kamera in der Position einer allwissenden Erzählerin verbleibt, erschafft sie doch den Eindruck von Subjektivität, indem sie eben ausschließlich jene Bilder einfängt, die auf Harry regelrecht einpeitschen. Die tote Frau. Der sterbende Mann. Die toten Kinder. Und all das geschieht fast stumm. Niemand schreit oder wimmert. Da sind lediglich einige letzte Blicke und Bewegungen: Bevor sich eine schier unendliche Stille über das Geschehen legt.

Das letzte Bild gilt allein den Opfern. Wie sie aufgebahrt am Straßenrand liegen bis sich ein Sanitäter erbarmt und ihre Körper bedeckt.

Man muss die Internet Movie Database bemühen, um mehr über die Autorin und Regisseurin Elke Hauck zu erfahren, die diese intensiven, traurigen, berührenden Bilder erschaffen hat (Kamera: Patrick Orth). 2007 erhielt sie den Filmpreis des saarländischen Ministerpräsidenten für ihr Regiedebüt «Karger» auf dem Filmfestival Max Ophüls, 2011 inszenierte sie einen Spielfilm mit dem Titel «Der Preis». Das war es dann auch schon mit ihren bisherigen Regiearbeiten. Als Autorin hat sie zwar in den letzten Jahren für «Der Alte» und «Letzte Ausfahrt Berlin» einige Episoden geschrieben, als Regisseurin aber ist sie geschlagene zehn Jahre nicht mehr in Erscheinung getreten. Was tatsächlich verwundert. Auch wenn «Gefangen» kein hundertprozentig perfekter Film sein mag, erschafft er doch immer wieder packende Momente, denen man sich schwerlich entziehen kann und die eine inszenatorische Klasse über Durchschnitt erkennen lassen.

Nach dem Unfall kehrt Harry in den Dienst zurück als sei nichts geschehen. Zwar wird er zu einem psychologischen Gespräch gebeten, doch Harry wirkt in diesem Gespräch – professionell. Natürlich habe ihn das Geschehen nicht kalt gelassen, erklärt er. Als Polizist müsse er jedoch stets damit rechnen, Situationen zu erleben, die hohe Anforderungen an seine Belastungsfähigkeit stellen. Darüber hinaus kann Harry von seiner speziellen Ausbildung profitieren. Als junger Polizist war er Mitglied eines SEK-Kommandos. Er ist darauf gedrillt worden, in besonderen Stresssituationen Ruhe zu bewahren. Sein selbstsicheres Auftreten mag der Psychologin zwar ein wenig zu professionell erscheinen, Harry aber bietet ihr auch keine Anhaltspunkte, die einen echten Zweifel daran aufkommen lassen, dass seine Worte nur eine Fassade darstellen könnten. So kann sie nicht viel mehr tun als ihm – sollte er dies wünschen – weitere Gesprächstermine anzubieten. Harry bedankt sich – und geht zurück an die Arbeit.

Doch kehrt er auch in sein Leben zurück?

Harrys Privatleben befindet sich in einer Phase der Umbrüche. Seine einige Jahre jüngere Frau Ellen ist schwanger. Noch einmal ein Vater zu werden, das stellt Harry vor Herausforderungen. Immerhin ist er ein Mann um die 50, der bereits ein erstes Leben mit Sohn und Tochter geführt hat. Ein Leben, das nachwirkt. Seine zwölfjährige Tochter Vicky, die sich sehr gut mit Ellen versteht, würde gerne bei den beiden wohnen, da sie mit ihrer Mutter nicht wirklich klarkommt. Allerdings wurde sie bei der Scheidung ihrer Eltern nun einmal der Mutter zugesprochen. Und dann ist da sein Sohn David, der gerade durch Australien zieht – und zu dem Harry ein eher angespanntes Verhältnis pflegt.

Auch wenn das Leben für Harry derzeit nicht nur Sonnenschein bieten mag, ist es dennoch kein außergewöhnliches Leben. Wäre da nicht der Unfall, dessen Bilder Harry natürlich nicht einfach löschen kann.

Was Harry letztlich zum Haus der Toten zieht, wird nie wirklich geklärt. Will er einfach nur etwas mehr über die Menschen erfahren, die vor seinen Augen gestorben sind? Vermutlich. Auf jeden Fall ist da das etwas ärmlich wirkende Haus, in dem die Familie gelebt hat. Eine nette Familie, wie Harry erfährt. Mit einem Vater, der vielleicht etwas unsicher und schüchtern wirkte, über den aber niemand etwas Schlechtes sagen würde. Mit einer Mutter, die von schönen Reisen träumten. Und zwei herzlichen kleinen Töchtern.

Ist Harrys Interesse anfangs möglicherweise nur davon getrieben, nicht nur tote Gesichter in Erinnerung zu behalten, sondern zu diesen Gesichtern auch Geschichten erzählt zu bekommen, entwickelt er recht bald eine regelrechte Obsession für die Getöteten. Eine Obsession, die so weit geht, dass er sich mehr und mehr mit dem Vater und dessen einfachem, aber glücklichem Leben ebenso identifiziert wie mit der Umgebung, in der er gelebt hat. Seine Identifikation geht soweit, dass er sogar das Haus kaufen will, um mit Ellen, ihrem gemeinsamen Kind und Vicky in genau diesem Haus zu leben.

Die Kunst der Inszenierung besteht im Grunde darin, dass es der Autorin und Regisseurin glaubhaft gelingt, die Geschichte eines Niedergangs in einem gefestigten Umfeld zu erzählen. Narrativ wäre es viel einfacher gewesen, diese Geschichte etwa vor dem Hintergrund eines Scheidungskrieges oder anderer, emotional über einen längeren Zeitraum hinweg extrem fordernder Situationen zu erzählen. Der Unfall wäre in einem solchen Szenario dann „nur“ jenes Momentum, das die emotionalen Wunden aufbrechen und bluten ließe. Harry aber ist mit Ellen glücklich verheiratet und dass Vicky bei ihm leben möchte, ist im Grunde ein großer Liebes- und Vertrauensbeweis. Sicher ist da der Konflikt mit dem Sohn. Und nicht zu vergessen die anstehende Vaterschaft in seinem doch bereits etwas fortgeschrittenem Alter. Doch selbst wenn dies an Harry unterbewusst nagen mag: Ellen und Vicky sind sinnbildlich gesprochen aus Gusseisen geschmiedete Anker, die ihn halten würden, würde er sie in die tiefen Gewässer seiner Seele eintauchen lassen. Genau dieses Eintauchen aber lässt er nicht zu. Statt sich einzugestehen, dass ihn der Unfall schwer belastet, spielt er der Welt eine Rolle vor. Die Rolle des starken Polizisten, der professionell mit dem Geschehen umgeht und keine Hilfe braucht. Indem er jedoch diese Rolle spielt, erschafft er um sich herum eine von Trugbildern getragene Welt, in der er bald nicht mehr nur nach Informationen über die am Unfallort verstorbene Familie sucht, sondern eine emotionale Gemeinschaft mit ihr eingeht, bis ihm diese Menschen (Geister) näher sind als seine eigene Familie. Er ist in seiner eigenen Trugwelt – gefangen!

Was aber wäre der Film ohne die grandiose Darstellung von Wolfram Koch. Koch, bekannt als Frankfurter «Tatort»-Kommissar Paul Brix, stellt Harry als einen anständigen, aufrichtigen Gesetzeshüter dar, der ganz in seinem Beruf aufgeht. Harry ist im besten Sinne des Wortes eine Respektsperson, ein Mensch, der schon durch sein bestimmtes Auftreten Aufmerksamkeit erlangt, dabei aber keinesfalls unnahbar wirkt. Zumindest ist dies der Harry des ersten Kapitels dieses Filmes, des Harrys vor dem Unfall. In den folgenden Kapiteln sind es nun Nuancen, die den etappenweise stattfindenden Zusammenbruch dieses Mannes greifbar machen. Mal ist es ein überraschendes Schweigen (Harry ist eigentlich ein sehr kommunikativer Mensch). Mal ist es ein gequältes Lächeln. Kurze Momente, die nach und nach Veränderungen widerspiegeln, die von Koch auf den Punkt gespielt werden.

Dass der Film nicht in Gänze gelungen ist, ist kleineren Stolperern in der Dramaturgie geschuldet. Immer wieder überschreitet die Inszenierung die Grenze zum Thriller. Ist Harrys emotionaler Höllentrip ein Drama aus der Mitte des Lebens? Oder ist damit zu rechnen, dass er irgendwann Grenzen überschreiten wird, die in einer Tragödie münden werden? Die Inszenierung lässt diese Frage lange Zeit unbeantwortet und baut auf diese Weise Spannung auf, die dann aber leider immer wieder gebrochen wird, um das pure Drama in den Mittelpunkt des Geschehens zu rücken. Dies aber sind nur kleine Dellen in einem ansonsten gelungenen Werk.

Das Erste strahlt «Gefangen» am Mittwoch, den 7. April, um 20.15 Uhr aus.

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Es gibt 2 Kommentare zum Artikel
Sentinel2003
05.04.2021 12:42 Uhr 1
Oh, Antje Traue, die gute habe ich gerade nochmals in der zdf_neo Serie "DEAD END" gesehen! Ein wunderbare Serie, leider viel zu kurz!
Montgomery
08.04.2021 20:16 Uhr 2
Wahrscheinlich habe ich die öffentlich-rechtliche Message hier nicht verstanden. Denn ich fand den Film einfach nur langweilig.
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