Ende Februar 2020 sah man noch überfüllte Foyers. Die Kinosäle waren meist mit zum letzten Platz besetzt. Während die einen wegen der kalten Temperaturen schon schnieften, versanken andere mit kleinen Augen in ihren Sitzen, weil sie schon den vierten Film in Folge gesehen haben. Ein Bild, wie es 16 Monate fast unvorstellbar geworden ist. Die 70. Berlinale war im letzten Jahr mit 22.000 akkreditierten Gästen aus 132 Ländern und 330.000 verkauften Tickets ein voller Erfolg. Glück gehabt, denn Corona war bereits in aller Munde und das Filmfestival hätte auch zum Superspreader-Ereignis werden können. Drei Wochen später wurde in Deutschland der Lockdown verhängt. Da stand bereits fest, dass die Berlinale 2021 wohl etwas anders verlaufen werde. Noch im Frühherbst hofften die Veranstalter, ein Publikumsfestival unter strengen Hygieneauflagen auf die Beine stellen zu können. Kurz vor Weihnachten mussten das Direktoren-Duo Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian schließlich verkünden, dass die Berlinale wegen der Pandemie nicht nur auf den März verschoben werden muss, sondern auch noch zweigeteilt wird.
Zuerst die Filmbranche, dann das Publikum
Eine Absage kam nicht in Frage, und eine Online-Variante über Streaming-Dienste wäre auch keine Alternative gewesen. Deshalb entschied man sich, im März zunächst einen digitalen Branchentreff zu organisieren, der ausschließlich der Filmindustrie vorbehalten blieb. Aber auch die Jurys aller Sektionen durften bereits sichten und sich ihre Urteile bilden. Unter den gegebenen Umständen bestand die Jury für den Wettbewerb 2021 aus sechs Gewinnern des Goldenen Bären der vergangenen Jahre. Darunter der Iraner Mohammad Rasoulof («Es gibt kein Böses», 2020), die Ungarin Ildikó Enyedi («Körper und Seele», 2017) und der Italiener Gianfranco Rosi («Sexfeuer», 2016). Die Ergebnisse wurden bereits im März verkündet, aber nun bekommt endlich auch das Publikum die Chance, die Filme sehen zu können – und sogar auf der großen Leinwand. Denn vom 9. bis 20. Juni findet der zweite Teil der diesjährigen Berlinale statt, allerdings nur Open Air. Dafür wurden in Berlin für diesen Zeitraum alle verfügbaren Freilichtkinos gebucht, die in der ganzen Stadt von Mitte bis Müggelsee verteilt sind.
Ein frischer Wind zieht durchs Festivalgeschehen
Zugegeben, eine abgespeckte Berlinale, zumal die Vorführungen in den 17 Spielstätten wegen der Lichtverhältnisse selten vor 21 Uhr stattfinden können. Ein Risikofaktor ist gewiss auch das Wetter, wobei davon auszugehen ist, dass eine Vorführung selbst bei Regen nicht gänzlich ins Wasser fallen wird. Aber alles ist besser als gar nicht und die Veranstalter haben sich redlich bemüht, das Beste aus der Situation zu machen. Spannender ist sowieso die Frage, welche Filme einem großen Publikum erstmals gezeigt werden. Im Wettbewerb ist Hollywood dieses Jahr gar nicht vertreten, auffällig ist dafür, dass ein Drittel der 15 Filme aus Deutschland kommen. Darunter das eindrucksvolle Regiedebüt von Daniel Brühl, der in «Nebenan» zugleich die Hauptrolle spielt. Da geht es um einen Schauspieler namens Daniel, der aus den USA das Angebot bekommt, in einem Superheldenfilm mitspielen zu können. Parallelen zum echten Daniel Brühl sind absolut gewollt. Maria Schrader ist als Regisseurin mit ihrer Science-Fiction-Parabel «Ich bin dein Mensch» dabei. Es geht um einen Roboter als perfekter Lebenspartner für eine von Maren Eggert gespielte Versuchsperson. Dominik Graf wagte sich an eine Neuverfilmung von Erich Kästners «Fabian oder Der Gang vor die Hunde» – diesmal keine Kindergeschichte, sondern eine Zeitreise ins Berlin 1931 über einen von Tom Schilling gespielten Werbetexter, der sich im verruchten Nachtleben verliert.
Glanz und Glamour auf Sparkurs
Trotz der starken Anzahl deutscher Filme entschied sich die Wettbewerbsjury für den rumänischen Beitrag «Bad Luck Banging or Loony Porn» von Radu Jude. Die Geschichte über eine Lehrerin, die ein Sex-Video dreht, dass in ihrer Schule bald die Runde macht, macht auch die Corona-Pandemie zum Thema. Mit dem Silbern Bären wurde «Wheel of Fortune and Fantasy» von Ryusuke Hamaguchi aus Japan ausgezeichnet. Als bester Regisseur durfte sich der Ungar Dénes Nagy für sein Kriegsdrama «Natural Light» freuen, ebenso Maren Eggert für ihre Rolle in «Ich bin dein Mensch». Mit ihrer Langzeitdokumentation «Herr Bachmann und seine Klasse» gewann die deutsche Regisseurin Maria Speth den Silbernen Bären. Um auch ein bisschen Glanz und Glamour hineinzubringen, sind auch einige Hollywoodstars dabei – vorrangig in der Sektion ‚Berlinale Special‘: In «French Kiss» erlebt man Michelle Pfeiffer als alterndes Luxusgirl. Jodie Foster beeindruckt in «The Mauritanian» als Strafverteidigerin, die eine Verschwörung aufdeckt, und die Sängerin Tina Turner bekommt mit dem Porträt «Tina» ein filmisches Denkmal gesetzt. Obwohl viele der Preisträger persönlich anwesend sein wollen, werden große Staraufgebote auf roten Teppichen unter dem Blitzgewitter unzähliger Fotografen 2021 wohl ausbleiben. Nichtsdestotrotz bekommt man mal ein Gespür dafür wie sich Berlinale in den Fünfzigern, Sechzigern und Siebzigern anfühlte. Denn bis 1978 fanden die Internationalen Filmfestspiele Berlin ausschließlich im Sommer statt, und so mancher wünscht sich diese Zeit schon längst zurück. Lieber bei blauem Himmel und mit Sonnenschein ins Kino als, wenn es draußen nass und kalt ist.
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08.06.2021 13:35 Uhr 1
09.06.2021 12:33 Uhr 2