Interview

Jürgen Erdmann: ‚Authentizität ist das A und O einer erfolgreichen Talkshow‘

von   |  1 Kommentar

Der Talkshow-Experte Erdmann leitete jahrelang erfolgreiche Talkshows im deutschen Fernsehen. Mit Quotenmeter sprach er über die Fehler und Erfolge der vergangenen Jahre.

Wie erinnern Sie sich an die goldenen Zeiten des Daily-Talks?
Es waren schöne Zeiten, sowohl für die Macher als auch für die Gäste der Shows. Und aufgrund der Quoten natürlich auch für die Sender. Wir hatten bei Bärbel Schäfer oder Oliver Geissen teilweise weit über 30 Prozent in der Zielgruppe der 14-49-Jährigen. Richtig los ging es 1995 mit dem Start von Gästekonstellationen, d.h. wir haben so viele Beteiligte innerhalb einer Familie oder eines Freundeskreises eingeladen, wie es für die Geschichte Sinn gemacht hat. Das war nicht zuletzt organisatorisch recht aufreibend bei manchmal neun Produktionen an drei Tagen.

Nicht vergessen sollte man aber Hans Meiser als Godfather des Daily Talks, weil er mehr für die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland geleistet hat als manch politischer Verantwortlicher. Er erreichte über Jahre tagtäglich ein Publikum, das schon damals einem Thema wie „Political Correctness“ eher fragend gegenüberstand. Er verstand es, jedem vermeintlichen oder echten gesellschaftlichen Außenseiter und seinem Anliegen auf völlig selbstverständliche Weise respektvoll zu begegnen. Damit trug er ganz nebenbei zu einer humanen Öffnung der Gesellschaft bei. Leider fehlt dieser moralische Kompass von Talk-Autoritäten seit zehn Jahren, und seitdem steigt die gesellschaftliche Disruption wieder stark an.

Meinen Erinnerungen zufolge hatten wir bis zu elf Talkshows am Tag. War das nicht ein bisschen viel?
Es herrschte Nachfrage. Darum wurde das Angebot erhöht mit allen positiven und negativen Effekten. Die Sender fanden dadurch viele neue Gesichter, die sie repräsentierten, und die aufgrund ihrer Bekanntheit und Erfahrung auch Abendshows perfekt moderieren konnten. Andererseits haben sich die Shows um Themen und Gäste streiten müssen, so dass an einem Tag – soweit ich mich erinnere – der gleiche Gast in drei verschiedenen Shows auf zwei Sendern saß.

Für mich waren die jährlichen Sommer-Specials von «Arabella» besonders toll. Die Sonne Mallorcas, der Strand von Ibiza oder die Regenschauer von Scheveningen, das bleibt einem doch in Erinnerung?
Es gibt auch eine ganze Menge Studio-Situationen, an die man sich gerne erinnert. Die Specials waren aber immer ein Zeichen der Wandelbarkeit der Shows. Wir Producer konnten auf allen Ebenen (Content, Locations, Gäste) auf aktuelle Entwicklungen reagieren. Mit Bärbel Schäfer haben wir 1997 zum Beispiel Live-Shows on Location in Rostock und Solingen produziert, um direkt an den Schauplätzen die Auswirkungen des Rechtsradikalismus zu thematisieren.

Dass es insgesamt relativ wenig Außenproduktionen gab, liegt schlicht an den im Vergleich zum Studio deutlich höheren Kosten.

Zwischen 2000 und 2005 begann das Talkshow-Sterben in Deutschland. Lag das an den immer billigeren Sendungen oder doch eher an der massiven Übersättigung?
Ich fand nicht, dass die Sendungen generell billiger wurden. Sie wurden angesichts der Konkurrenz nur schwieriger produzierbar, so dass sich alle um die gleichen Themen und Gäste stritten. Manche Protagonisten haben es sogar versucht auszunutzen, indem sie sagten, dass sie zum Beispiel bei Arabella einen Hunderter mehr kriegen würden. Ich habe das als Chef fast immer abgelehnt, denn sobald Leute anfangen, um Geld zu pokern, leidet die Authentizität der Geschichte.

Sie arbeiteten jahrelang mit Oliver Geißen zusammen.
Die Jahre mit Oliver waren insgesamt gesehen ein riesengroßer Spaß für alle Beteiligten. Besonders die immer wieder stattfindende Situationskomik hat die Stimmung massiv gehoben und sich in positiver Weise auf die Sendung übertragen. Toll für unser Team war Olivers Professionalität und Menschlichkeit. Wir konnten uns auf ihn und seine Moderation jedes Mal zu 100 Prozent verlassen. Und Sie glauben gar nicht, wie vielen Menschen wir in schwierigen Situationen geholfen haben. Durch unsere „Hauspsychologen“ Stephania Lanzillotta und Michael Thiel gaben wir sehr viel Halt und Hoffnung - und eines wird immer total unterschätzt: Wenn eine neutrale Person wie ein Redakteur mit einem Gast über dessen Probleme redet und Fragen stellt, die ihm im privaten Rahmen kein Mensch aufzeigt, dann hat das eine gewisse therapeutische Wirkung unterhalb der Schwelle eines Psychologen-Gesprächs. Sie ahnen gar nicht, wie viele Menschen sich für die Betreuung und die Möglichkeit des TV-Auftritts bei uns bedankt haben.

Lügengeschichten haben wir übrigens schnell erkannt und aussortiert. Es ist uns gelungen, die Redaktion so aufzubauen und zu schulen, dass sie in der Lage war, Fake-Stories aufzudecken. In einem Fall haben wir im Vorfeld die Lüge erkannt und die Gäste aufgrund ihrer Dreistigkeit absichtlich eingeladen, um sie auffliegen zu lassen. Oliver hat unsere Fragetechnik der Recherchearbeit live performt, die Gäste damit demaskiert und freundlich aus dem Studio gebeten. Das hatte eine wichtige Signalwirkung.

Nach der letzten Folge von «Andreas Türck» übernahm Tobi Schlegl den Sendeplatz. Rückblickend gefragt: Woran scheiterte die Sendung?
Tobi ist ein wunderbarer Mensch und Moderator, der mit viel Enthusiasmus an die Showproduktion gegangen ist. Wie sein späterer Lebensweg gezeigt hat, war eine solche Show vielleicht nicht 100 Prozent das Richtige für ihn. Das war aber nicht der Grund des Scheiterns. Wir waren zwar nicht überragend gestartet, aber ganz zufriedenstellend. Der damals für die Daytime zuständigen Senderchefin reichte das nicht - und der im Vergleich zu RTL sowieso schon überproportionale Eingriff seitens des Senders auf die Redaktion wurde noch mehr ausgeweitet und schließlich so massiv, dass aus meiner Sicht ruhiges und erfolgreiches Arbeiten unmöglich wurde. Die Quoten wurden dann sukzessive schlechter, so dass der Sender einige Monate später den Stecker zog.

Arabella Kiesbauer soll sich geweigert haben, mit Laienstarstellern zu arbeiten, bei «Nicole» wurde mit Statisten gearbeitet. Der Anfang vom Ende?
Ja. Authentizität ist das A und O einer erfolgreichen Talkshow. Wenn ein Host unter seinem eigenen Namen als Schauspieler auftreten muss, tut man niemandem einen Gefallen. Auch der Quote nicht. Ich habe jahrelang auch gescriptete Dokus für verschiedene Sender produziert. Dort ist es etwas anderes, weil es sich genauso um eine Fiction-Produktion handelt wie etwa der «Tatort», wenn auch auf allen Ebenen auf niedrigerem Niveau. Selbst dort waren die abgesetzten O-Töne der Protagonisten die Stellen, an denen man am leichtesten merken konnte, dass es sich nicht um echte Geschichten handelt. Und eine Talkshow besteht nun einmal ausschließlich aus abgesetzten O-Tönen…

Britt Hagedorn moderierte bis 2013 ihre tägliche Talkshow. Allerdings wurden dort nur noch Vaterschaftstests gemacht. Warum wurde überall so massiv gespart?
Das mit den Vaterschaftstests ist ja nur gefühlt so, sie hatte in der großen Mehrheit bis zum Ende auch andere Themen. Gespart hat die Redaktion damit aber nichts.

Vaterschaftstest-Folgen sind leicht teurer als „normale“ Talk-Shows, weil die Testkosten on top kommen und man die Gäste genauso recherchieren muss.

Britt war am Ende, weil nach zehn Jahren die Luft raus war. In der Rückschau erkennt man leicht, dass dies bei allen Hosts der Fall gewesen ist. Verständlich, denn nach zweitausend Shows im gleichen Format gibt es auch beim engagiertesten Moderator keinen wirklichen Überraschungseffekt mehr, weder für ihn noch für seine Zuschauerschaft.

Nur 22 Folgen lang moderierte Detlef D! Soost seine Talkshow bei RTLZWEI. Soost stand mit seinen Gästen um einen Tisch und eine wirkliche Diskussion kam nicht zustande. Alles nur so halbgar. Warum schickt man so etwas auf Sendung?
Ehrlich gesagt war ich gespalten. Einerseits habe ich das Projekt sehr begrüßt, andererseits habe ich mich über die schludrige redaktionelle Arbeit der Show geärgert. Man darf nicht solche Fehler in Themen- und Gästeauswahl und Moderatorenbriefing machen. Das war aber nur ein Aspekt des Misserfolgs. Der andere war der fehlende Audience Flow und das geringe Durchhaltevermögen. Eine richtig erfolgreiche Nachmittagsschiene ist möglich, wenn Formate des gleichen Genres hintereinandergeschaltet werden. Egal, ob Courtshows, Scripted Entertainment, Quiz oder eben auch Talk. Als Sender braucht man richtig Mut, gleich bei Beauftragung auf eine solche Schiene zu setzen und diese auch mindestens ein halbes Jahr durchzuhalten.

Denken Sie an «Berlin – Tag & Nacht». Hier waren die Quoten genauso schwach wie bei Detlef Soost und hätten genauso eine Absetzung nach vier Wochen gerechtfertigt. RTLZWEI hat daran festgehalten und eine riesige Erfolgsgeschichte geschrieben. Wobei man ehrlicherweise dazu sagen muss, dass bei BTN die Social-Media-Daten erheblich besser waren, mehr Folgen auf Halde lagen und sie auch deutlich besser produziert waren als bei Detlef Soost.

Marco Schreyl ging im Corona-Jahr auf Sendung. So wirklich Stimmung ist dort allerdings nicht aufgekommen. Das lag aber nicht an der Pandemie, oder?
Doch, auch. Talkshows ohne Publikum haben oft etwas von Trauerveranstaltungen. Das war aber nicht entscheidend. Aus meiner Sicht gab es zwei Hauptgründe des Scheiterns, die sich aus meinen bisherigen Antworten ergeben. Erstens fehlte wieder der Audience Flow und zweitens ist Marco Schreyl ein gut fragender Moderator, der sich aber persönlich mit seiner Lebensgeschichte zu wenig einbrachte. Es geht zu Lasten der Authentizität, wenn ein Host im Daily Talk zu wenig über eigene Erlebnisse redet und dadurch das Gefälle zu den Gästen so steil wird, dass die Gesprächsebene verrutscht. Das hat zur Folge, dass die Gäste schlechter funktionieren und sich keine Fanbase des Hosts entwickelt. Diese Basis ist gerade im Social-Media-Bereich so wichtig, um nach einigen Wochen bessere TV-Quoten zu generieren. Das gleiche Phänomen konnte man übrigens auch bei Ricky Harris in Sat.1 erleben, der zeitgleich mit Oliver Geissen gestartet, aber nach einem halben Jahr Geschichte war.

Wie könnte eine gute Talkshow im Tagesprogramm in der heutigen Zeit aussehen?
Ich würde gar nicht auf eine einzige Talkshow setzen, sondern aufgrund des Audience Flows auf eine Talk basierte Schiene unterschiedlicher, frischer Formate. Die Talks der 90er neu aufzulegen fühlt sich etwas verstaubt an und wäre nur die zweitbeste Variante.

Ich nenne die Neuauflagen gerne «Talk with a Twist». Wir müssen eigene Formate kreieren oder Lizenzformate finden. Eines ist beispielsweise «Eating with the Enemy» aus Irland, wo sich zwei Leute mit diametral entgegengesetzten Positionen zu politischen, aber auch gesellschaftlichen Themen an einem Tisch gegenübersitzen und redaktionelle Fragen per Tablet erhalten. Ein Host und ein Gesprächspsychologe können jederzeit eingreifen.

Oder warum können wir nicht Game-Elemente in eine Talk-Show integrieren? Es gibt so viele Möglichkeiten und so viele Kreative in den Produktionsfirmen, die sich über eine solche Aufgabe freuen werden! Zu dieser Aufgabe gehört heutzutage untrennbar verbunden die exakte Planung des zur Show und zum Host gehörenden Social-Media-Auftritts. Nur so können wir Gäste und Fans erschließen, die für den nachhaltigen Erfolg notwendig sind.

Darum sind trotz aller Formatgedanken die Köpfe der Shows am allerwichtigsten. Diese müssen eine ganze Menge an Voraussetzungen erfüllen und zu den Formaten und den jeweiligen Sendern passen. Die gute Nachricht: Es gibt sie! Die Themengestaltung ist sehr variabel und natürlich Sender abhängig. Der eine Sender wird politischere Themen bevorzugen, der andere eher im Familien- und Beziehungsbereich bleiben wollen. Zudem lässt die Formatausgestaltung einige Themen mehr und andere weniger zu. Ich sehe aber auch in scheinbar unpolitischen Themen eine nicht zu unterschätzende gesellschaftliche Relevanz.

Vielen Dank für Ihre Expertise!

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Es gibt 1 Kommentar zum Artikel
Familie Tschiep
28.07.2021 15:33 Uhr 1
Ich halte die Sache mit dem Twist nicht für dringend erforderlich, es kommt auf eine gute Reaktion an, die den Mut zu guten, auch neuen Themen hat und gute Leute findet. Das muss nicht verstaubt sein.

Zum Scheitern mit Schreyl habe ich andere Gründe, da hat man zu wenig auf die Themen und die Zuschauer vertraut.

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