Stab
REGIE: Brian Andrew MendozaDREHBUCH: Philip Eisner, Gregg Hurwitz
PRODUKTION: Brian Andrew Mendoza, Jason Momoa, Brad Peyton, Jeff Fierson
KAMERA: Barry Ackroyd
SCHNITT: MikeMcCusker, Matt Chessé
MUSIK: Steven Price
DARSTELLER: Jason Momoa, Isabela Merced, Manuel Garcia-Rulfo, Raza Jaffrey,Justin Bartha, Lex Scott avis, Michael Raymond-James, Amy Brenneman
Leider muss an dieser Stelle eingeworfen werden, dass der Film in keinem Moment das ist, was die ersten beiden Absätze dieser Besprechung vermuten lassen. «Sweet Girl» ist in etwa so spannend wie die Lektüre der Fahrpläne der Bochum-Gelsenkirchener Straßenbahngesellschaft, so überraschend wie die vollkommene Unfähigkeit von CSU-Bundesverkehrsministern in der Regierung Merkel, und so kompromisslos wie eine weiße Raufasertapete an der Wand. Es ist durchaus gerechtfertigt, die Sichtung des Filmes als eine Qual zu bezeichnen. Sicher, man kann während der Laufzeit vielleicht eine podologische Behandlung der Hornhaut der eigenen Füße vornehmen: Man braucht keine Angst zu haben, von diesem Film in irgend einer Art und Weise abgelenkt zu werden. Als Hintergrundrauschen ist das, was er bietet, vielleicht ganz angenehm. Doch wirklich mit den Augen auf dem Bildschirm kleben zu bleiben, das bedarf irgendwann einer großen Überwindung.
Aber gut, der Vollständigkeit halber, um was geht es?
Amanda Cooper ist also eine amerikanische Hausfrau, die nach einer überstandenen Krebserkrankung und einiger schöer Jahre an der Seite von Ehemann Ray und Tochter Rachel ein zweites Mal an dieser verdammten Pest der Gegenwart erkrankt. Ihr Zustand verschlechtert sich rapide. Doch dann erhält Ray eine überraschende Nachricht. Ein neues Medikament steht kurz vor der Zulassung. Ein Medikament, dessen Wirkung in Studien teils erstaunliche Ergebnisse erzielt hat. Ein paar Tage nur – dann können sie es Amanda verabreichen und ja, der behandelnde Onkologe ist ein bisschen euphorisch. Jedoch findet keine Behandlung statt, denn der Konzern BioPrime übernimmt den Hersteller des Medikamentes und stoppt die Produktion. BioPrimes CEO Simon Keeley erklärt in einer Call-In-Sendung von CNN einer sichtbar angefressenen Kongressabgeordneten, die die Herstellung des Medikamentes tatkräftig unterstützt hat, dass man nun einmal in einem kapitalistischen System lebt, in dem man doch nicht ein Medikament einsetzen kann, das eine Krankheit heilt, dessen langwierige Behandlung viel, viel mehr Geld erwirtschaftet. Erzürnt ruft Ray in der Sendung an und erklärt diesem Simon Keeley, dass er ihn umbringen wird, wenn seine Frau sterben sollte. Und Amanda stirbt tatsächlich. Doch natürlich passiert erst einmal gar nichts, denn Ray ist ein anständiger Mann. Er mag wütend gewesen sein, zornig, vielleicht sogar zerfressen von Hass als er zum Telefonhörer griff - aber er ist niemand, der nun in einen durchschnittlichen US-Walmart gehen, sich ein M-16-Sturmgewehr kaufen und Amok laufen würde. Nein, dieser Mann lernt mit dem Schmerz zu leben. Er nimmt sein Schicksal an. Was kann er denn auch schon gegen Bestien wie Keeley ausrichten?
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Zwei Jahre später leben Vater und Tochter, von den Behandlungskosten für Amanda ruiniert, in einer Sozialwohnung. So ist der Tag gekommen, an dem Ray seine telefonische Drohung in die Tat umsetzen will.
Das Problem fängt mit dem Auftauchen des Journalisten an. Die Art und Weise, wie er sich nicht zu erkennen gibt, wie er sich versucht in der Öffentlichkeit zu verstecken und wie er dann doch in aller Öffentlichkeit gekillt wird, wirkt – lächerlich. Zur Erinnerung: Der Film spiel 2021. 1978 wäre diese Sequenz nicht zu beanstanden gewesen. Der einsam recherchierende Journalist, der einer Verschwörung auf die Schliche kommt, dem vielleicht niemand glauben will, der nicht weiß, wo er seine Notizen sicher unterbringen kann und der Angst hat, von den bösen Verschwörern aus dem Weg geräumt zu werden: Das ist eine klassische Conspiracy-Thriller-Ausgangssituation. Heute jedoch fragt man sich, warum der Journalist seine Rechercheergebnisse nicht über eine Plattform wie Wikileaks einfach der Öffentlichkeit (anonym) zur Verfügung stellt, warum er sich nicht (auch das geht anonymisiert) mit Journalistinnen und Journalisten austauscht, die in fremden Ländern sitzen und seine Infos ihrerseits in Clouds irgendwo verstecken, wo sie vor dem Zugriff böser Buben sicher sind? Oder – warum er sich nicht an eines der zahlreichen Recherchenetzwerke wendet, die in internationalen Verbünden organisiert auch großen Schmutzfinken auf die Finger hauen. Um eines klar zu sagen: In einem Thriller wie «Sweet Girl» geht es nicht um eine Abbildung der Wirklichkeit. Was aber eine Geschichte wie «Sweet Girl» sein muss: Plausibel. Es muss plausibel dargelegt werden, warum dieser Journalist etwa alleine arbeitet. Was jedoch nicht passiert. Da ist vielmehr ein hektischer, einsamer Spürhund, dessen Name nach seinem Ableben auch schon vergessen ist, und der hat brisante Unterlagen. Wobei noch einmal die Frage erlaubt sein darf: Um was geht es in seinen Recherchen noch einmal? Genau: Um eine Verschwörung - in welche, äh, BioPrime verwickelt ist?
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Wozu braucht die Geschichte da noch eine Verschwörung?
Weil sich vielleicht Politiker von BioPrime schmieren lassen, um BioPrime vor allzu lästigen Nachfragen irgendwelcher Senats- oder Kongressausschüsse zu schützen? Zur Hölle, natürlich werden da Politiker geschmiert. Das sind die Vereinigten Staaten von Amerika, wo Politiker Wahlkämpfe aus der eigenen Tasche finanzieren müssen und daher darauf angewiesen sind, dass sie geschmiert werden, wenn sie nicht zufällig selbst dem Entenhausener Milliardärsclub angehören. So funktioniert das System. Und ein Megakonzern wie BioPrime hat in diesem System möglicherweise Politiker gekauft? Wen sollen die denn sonst kaufen - außer Konkurrenzunternehmen und Politiker?
Nach der wahrscheinlich unnötigsten Actionszene der letzten 25 Jahre (in der Metrobahn) und der Verletzung Rays – entschließt sich dieser dann also zwei Jahre später, seinen Worten doch noch Taten folgen zu lassen. Das kann man machen. Nur warum erst zwei Jahre später? Weil dieser Zeitraum leider auch schon die „Pointe“ des Filmes verrät. Die hier natürlich nicht verraten wird, die sich aber im Titel wiederfindet. Dieser Film trägt den Titel «Sweet Girl» und nicht «Angry Widower» oder «Angry Dad». Nach der Verletzung Rays nämlich hat sich Töchterchen Rachel zu einer erstaunlichen Kraftmaschine entwickelt. Nach dem Angriff auf ihren Vater hat sie sich dem Kampfsport verschrieben und wir, die Zuschauer, erleben, wie sie vollkommen von Sinnen fast einen Sparringspartner umbringt. Ja, diese Rachel hat Wut in sich. Sie hasst die Welt und dieser Rachel wäre durchaus zuzutrauen, dass sie in ihrer Wut den Mörder ihrer Mutter – und in der Welt des Dramas, jenseits der Regeln weltlicher Justiz ist dies CEO Simon Keeley – umbringen würde. Was dann auch, …
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Und so müht sich «Sweet Girl» fortan ab, irgendwie die Spielzeit bis zur großen „Pointe“ zu strecken. Papa und Tochter geraten hier und da in Gefahr, gejagt von bösen Verschwörern. Und dann gibt es Gespräche. Über die Tat, über die Flucht. Blabla, das Tiefe behauptet, uns aber in Wahrheit davon ablenken soll, dass die große Verschwörung, vor der Papa und Tochter flüchten so gut durchdacht ist wie ein Sprung vom 10-Meter-Brett in ein leeres Schwimmbecken.
Dass irgendwie auch die Ermordung Keeleys mit ihrer Flucht zusammenhängen könnte... Egal.
Nun gibt es bei aller Kritik zwei Faktoren, die den Film hätten retten können. Gut gemachte Action und Darsteller vom Format eines Liam Neeson, der selbst den größten Käse mit seiner Klasse wie französischen Edelbrie duften lässt. Womit «Sweet Girl» endgültig untergeht. Die Actionszenen sind Standardware. Sie sind alles andere als originell, aber die Kamera wackelt nicht und das Bild ist anständig ausgeleuchtet. Vom Aufwand her sind diese Szenen etwa mit denen französischer A-Actionfilme zu vergleichen. Wenn diese französischen Filme das Markenprodukt darstellen, ist «Sweet Girl» die Gut- und Günstig-Variante: Sie ist okay. Aber es fehlt ihr doch an Zutaten, dem korrekten Reifegrad oder wenigstens dem Gefühl, dass sie etwas Besonderes sein könnte.
Womit Jason Momoa und Isabela Merced in den Fokus rücken.
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Isabela Merceds irrlichtert derweil ziellos durch die Handlung. Der Name ihrer Figur ist bekannt: Rachel. Aber wer Rachel ist, darauf gibt ihr Spiel keine Antwort. Sie bleibt emotionslos, wenn die Welt um sie herum zusammenbricht, sie ist plötzlich taff, wenn Zurückhaltung angesagt wäre. Sie ist Engel und Teufel, aber dies nur, weil das Drehbuch dies behauptet. Sie selbst schafft es nie, ihrer Figur tatsächlich so etwas wie eine greifbare Persönlichkeit zu verleihen.
Dass es dem Film – der immerhin auch ein Verschwörungsthriller sein will – vollkommen an investigativen Momenten fehlt, in denen die Protagonisten auf investigativen Wegen der Auflösung der Verschwörung nahe kommen, sondern Ray und Rachel alle Spuren, denen sie folgen, durch Drehbuchwindungsmanöver in den Schoß gelegt werden... Sei ebenso nur am Rande erwähnt wie die Tatsache, dass die Auflösung der so genannten Verschwörungsgeschichte so phantasielos inszeniert ist, dass es für diese Auflösung nur eine Erklärung gibt: Die Produzenten haben im Schnittraum das Debakel, das sie hier auf den Weg gebracht haben, als solches erkannt und irgendwann nur noch schnell fertiggestellt, um ihre vertraglichen Verpflichtungen gegenüber Netflix zu erfüllen.
«Sweet Girl» ist bei Netflix verfügbar.
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