Stab
Darsteller: Roesland Wiesnekker, Ulrike C. Tscharre, Rainer Bock, Uygar Tamer, Emilie Neumeister, Anneke Kim SarnauMusik: Sebastian Pille
Kamera: Ian Blumers
Drehbuch: Katrin Ammon und Martina Borger
Regie: Alexander Dierbach
Kein großer Schritt. Denkt man. Bis sie – so zumindest in den Augen ihres Mannes und ihrer Teenager-Tochter – kaum noch zuhause ist, sondern den ganzen Tag nur Lebensmitteldeals mit Großhändlern einfädelt und Essen an Bedürftige verteilt, die es schwer im Leben haben – schwerer als sie und ihre Familie in einem großen Haus und mit dem gesicherten hohen Einkommen ihres Mannes, der in der Werbebranche arbeitet. Denn zu Agnes‘ Dauerabwesenheit gesellt sich nun auch ein besonders starkes soziales Gewissen, das viel deutlicher geschärft ist als das ihrer Familie.
Hat man eine Tochter im Teenager-Alter, die einen gewissen Wohlstand in Form von iPhones und Urlaubsreisen gewohnt ist, führt das schnell zu Konflikten. Allgemeiner Streit wird bald zu einer Art Schwebezustand in diesem Haushalt, und Gregor schlägt sich immer mehr auf die Seite der verwöhnten Tochter, für deren Empfinden er viel Verständnis aufbringt: Sie kennt es ja nicht anders, und wenn Agnes von den ärmlichen Lebensbedingungen erzählt, unter denen andere Menschen in diesem Land leben müssen, bleibt das für ihre Familie eine abstrakte Größe: Sie sehen diese Armut ja nicht alltäglich, für sie hat sich das Leben nicht verändert, ihr Wohlstand bleibt normal.
Dieser schwelende Konflikt wird bald so erdrückend, dass die Reißleine zumindest für einen der beiden attraktiv erscheint. Wenn sowieso alles infrage gestellt wird, wenn man sich nur streitet, wenn man sich noch liebt, aber sich schon so weit voneinander entfremdet hat: Gibt es dann noch eine Zukunft? Ist die Trennung da nicht der sauberere Schnitt, vielleicht früher oder später ja sowieso unausweichlich?
Fragen, die sich schon jeder Mensch gestellt haben dürfte, der schon einmal eine Lebenskrise verwinden musste – und das dürften, zumindest ab einem gewissen Alter, alle Zuschauer dieses Films sein, den Regisseur Alexander Dierbach mit seinen beiden besonders begabten Hauptdarstellern Ulrike C. Tscharre und Roeland Wiesnekker mit einem sehr kühnen Stil angelegt hat: Streit, Geschrei, Tränen – das gibt es in «Wo ist die Liebe hin» kaum zu sehen, und trotzdem ist die erdrückende Stimmung in fast jeder Szene greifbar. Es ist ein Film, der seine Wirkung kennt, der um ihre Kraft weiß und sie schonungslos einzusetzen bereit ist. Nicht auszuschließen, dass hinterher auch viele Zuschauer ihr Leben überdenken werden, um sich zu vergewissern, wo sie emotional stehen.
Der Film «Wo ist die Liebe hin» ist am Mittwoch, den 12. Januar um 20.15 Uhr im Ersten zu sehen.
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