Serientäter

«Disco Paraiso»

von

Drei Mädchen verschwinden in einer kleinen Stadt nahe Valencias. Gesehen wurden sie zuletzt in der Discothek Paraiso. Die Polizei ist ratlos. Es gibt kein Anzeichen für ein Verbrechen. Javi, der Bruder eines der verschwundenen Mädchen, beginnt eigene Nachforschungen anzustellen, just an dem Tag, an dem ein seltsamer Kommissar aus Madrid in der kleinen Stadt auftaucht.

Stab

Spanien 2021
7 Episoden (je etwa 60 Minuten)
DARSTELLER: Pau Gimeno, Cristian López, Iňaki Ardanaz, León Martinze, Héctor Gozalbo, Macarena Garcia, María Romanillos,Yoon C. Joyce,
SHOWRUNNER: Ruth Garcia, Fernando Gonzáles Molina, David Oliva
REGIE: Fernando Gonzáles Molina
DREHBUCH: Álvaro Bermúdez des Castro, David Olivia, Fernando Gonzáles Molina
PRODUKTION: Fran Araújo, Domingo Corral
KAMERA: Elías Félix
SCHNITT: Verónica Callón, Fernando Márquez
Zunächst ein Blick auf den Look der Serie. Die Handlung spielt 1992. Und es ist der Ausstattung erstaunlich gut gelungen, die 90er Jahre „neu“ aufzulegen. Die Inszenierung ist dabei klug genug, die Bilder nicht mit Details zu überfrachten. Es sind eher Auslassungen, die ins Auge fallen. Das Fehlen von Notebooks, Mobiltelefonen und ähnlichen Accessoires unserer Zeit etwa deuten darauf hin, dass diese Serie wohl nicht wirklich im Hier und Jetzt spielen kann. Bei der Kleidung hat man sich, von einigen wenigen Szenen abgesehen, für einen eher neutralen Look entschieden. Mit Beginn der 90er Jahre verschwanden einige der schlimmsten Verfehlungen der 80er Jahre quasi aus den Augen der Öffentlichkeit und gerade in der Jugendmode kehrte eine gewisse Bodenständigkeit ein, die weitaus zeitloser wirkt als das vorangegangene Jahrzehnt mit seinen Karottenhosen, Puffärmeln und Schulterpolstern. Die Macher der spanischen Serie haben penibel darauf geachtet, die Serie nicht zu überfrachten, um nie ihre Geschichte aus den Augen zu verlieren, auch wenn der Faktor Zeit durchaus eine Rolle spielt (auch unter der Prämisse, dass die zweite Staffel, die der spanische Sender Moviestar+ bereits geordert hat, offenbar nicht mehr 1992 spielen wird). In Spanien war die Serie 2021 ein Hit. Hierzulande indes ist sie auf Sky zur Veröffentlichung gelangt, und wie so oft bei Titeln, die auf Sky gestreamt werden und nicht aus dem Hause HBO stammen, läuft auch «Disco Paraiso» weitestgehend unter dem Radar. Während HBO-Serien stets Beachtung und Aufmerksamkeit erfahren, wirkt der Umgang mit Serien wie «Disco Paraiso» seltsam halbherzig. Sie werden auf die Plattform gestellt, füllen damit die digitalen Regale: ein Marketing, mit dem sie in die Öffentlichkeit getragen werden, findet jedoch nicht statt.

Es ist – seltsam!


«Disco Paraiso - Das Geheimnis von Almanzora», so der vollständige deutsche Titel, beginnt nicht etwa mit dem Verschwinden der Mädchen. Nein, gleich der Prolog lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass an diesem Ort Kräfte walten, die sich möglicherweise nicht mit polizeilicher Ermittlungsarbeit alleine erklären lassen. Es ist der Leuchtturm, der in den Fokus rückt und der in dieser Nacht zum Schauplatz eines seltsamen Geschehens wird. Ein Möwenschwarm scheint im Kollektiv dem Wahnsinn verfallen zu sein. Vollkommen von Sinnen fliegen die Tiere gegen die Turmfenster und stürzen zu Dutzenden in den Tod.

Dies also ist Almanzora. Ansonsten ein eher langweiliger Ort an der Küste. Allerdings liegt ein Schatten über der Stadt. Sandra, Eva und Malena, drei Teenager, sind verschwunden. Spurlos. Am Abend ihres Verschwindens haben sie die Disco Paraiso besucht, den einen Ort, an dem zumindest in den Sommermonaten an den Wochenenden das Leben pulsiert. Was danach geschehen ist? Niemand weiß es. Die Mädchen sind vom Erdboden verschwunden. Es gibt keinen Hinweis auf eine Entführung oder irgendein Indiz, das auch nur annähernd als Spur bezeichnet werden könnte. Auch Monate nach ihrem Verschwunden liegt ihr Verschwinden wie ein Schatten über der Stadt. Während diese aber mit dem Schmerz zu leben gelernt hat, sind die Angehörigen mit ihrem Schmerz nunmehr alleine. So wie Javi. Er ist der Bruder Sandras. Sein Verhältnis zu seiner gerade einmal ein Jahr älteren Schwester war (ist) sehr eng, auch, da ihre Mutter früh verstorben ist. Ihr Vater Mario versucht sich stark zu geben, in Wahrheit aber verdrängt er seinen Schmerz nur, was sich immer wieder in Momenten offenbart, in denen er Javi kaum als anwesend wahrnimmt – oder seine Anwesenheit direkt als störend empfindet. Es ist nicht so, als hätte er Sandra Javi je vorgezogen. Vielmehr ist Mario nicht in der Lage, seine Gefühle unter Kontrolle zu bekommen. Was auch Paula spürt. Paula war einige Zeit lang Marios Freundin. Auch ihr Verhältnis zu Javi und Sandra war (ist) freundschaftlich geprägt. Paula ist Polizistin. Jedoch, und an diesem Punkt der Geschichte ist das Spieljahr 1992 nicht zufällig gewählt, ist sie als Frau in diesem Umfeld nach wie vor eine Exotin, weshalb sie die Stadt eigentlich längst verlassen wollte, um ein Angebot in Valencia anzunehmen. Hier in der Provinz sind ihre Karrierechancen gleich null. Doch nach dem Verschwinden Sandras schiebt sie diese Entscheidung hinaus, auch, da ein seltsamer Polizist aus Madrid seinen Dienst aufnimmt. Dieser Zhou ist nicht nur ein Außenseiter, da er chinesischer Herkunft ist und damit in der spanischen Polizei des Jahres 1992 ein wirklich ungewöhnlicher Ermittler. Vor allem aber kann Paula ihm gegenüber einen gewissen Argwohn nicht verhehlen. Dieser Zhou scheint mehr über den Fall zu wissen als er mit seinen Kollegen vor Ort teilt. Etwa das Wissen darum, dass dies nicht der erste Fall dieser Art ist. Paula zumindest beginnt (heimlich) in Archiven zu forschen. Man darf an diesem Punkt nicht vergessen: Spanien war bis 1975 eine faschistische Diktatur und es hat danach noch einige Jahre gedauert, bis sich das Land zu einer vollwertigen Demokratie entwickelt hat. Bei ihren Recherchen stellt Paula auf jeden Fall fest, dass einige der Fälle vertuscht worden sind. Fälle, die aber viel zu weit zurückliegen, als dass der Täter im Jahre 1992 noch rüstig genug sein könnte, um drei Mädchen verschwinden zu lassen!

Und dann ist da die Sache mit der Disco. Auch Javi will nicht glauben, dass seine Schwester vielleicht einfach nur abgehauen ist, wie man bei der Ortspolizei vermutet. Der Sommer ist vorbei und die Disco steht leer. Kurzerhand bricht er mit seinen Freunden Quino und Álvaro in die Disco ein, um selbst nach Spuren zu suchen. Dabei läuft ihnen mit Zeta der Klassenbully über den Weg, der mit Javi noch einige Rechnungen offen hat, bei dem Thema Einbruch aber durchaus interessiert reagiert... Während die Jungs in der Disco nach Spuren suchen, nutzt jemand die Gelegenheit, sich dieser Spuren zu entledigen – indem er oder sie ein Feuer legt.

Kriminalfilm mit mystischem Einschlag


Die Inszenierung ist klar im Kriminalfilm verankert. Die gesamte Bildgestaltung, das Vorgehen der handelnden Figuren: Das alles würde man so eigentlich in einer Kriminalserie verorten. Dennoch ist «Disco Paraiso» eine Serie, die sich in Welten bewegt, die das Fassbare hinter sich lassen. Nicht nur, weil der Prolog der Serie dies vom ersten Moment an klarmacht. Die Geschichte überschreitet ganz einfach die Grenzen. Wo die Inszenierung im reinen Handwerk (Kamera, Schnitt, Musik, Ausstattung) im Kriminalfilmgenre verbleibt, lässt die Handlung dessen Grenzen locker hinter sich. Siehe die Spuren, denen Paula folgt, als sie feststellen, dass schon andere junge Frauen verschwunden sind, nur dass deren Verschwinden viel zu lange zurückliegt als dass der gleiche Täter infrage käme.

Leider ist die Serie viel zu lang. In ihren sieben Episoden wiederholen sich Dinge, die Spannung wird künstlich in die Länge gezogen: Nur künstlich erzeugte Spannung ist keine Spannung. Der Dramatik-Motor gerät immer wieder ins Stottern. Und die Gewichtung bezüglich der Figurenpräsenz funktioniert hinten und vorne nicht. Während Javi fast omnipräsent agiert, kommt etwa Kommissar Zhou viel zu kurz, obschon er sehr wichtig für das Geschehen ist. Nur bleibt seine Rolle durch die wenigen Auftritte viel zu fragmentarisch gezeichnet und damit unvollständig. Javi wiederum wirkt oft unangenehmen ich-bezogen. „Meine Schwester“, „mein Schmerz“, „mein Wille zur Aufklärung.“ Ich, ich, ich! Das degradiert seine Freunde fast schon zu treuen Hündchen, die jeden Weg ihres Herren gehen, ohne ihm mal ordentlich in den Hintern zu beißen, wenn er es verdient hat. Javi auf jeden Fall hätte es verdient, denn bei aller Liebe: Wenn eine Figur sich über den Schmerz eines Verlustes definiert, dieser Schmerz aber irgendwann zu nerven beginnt, dann ist dieser Charakter nicht wirklich gut geschrieben.

Dafür kommt der Twist am Ende der ersten Episode derart überraschend, dass man den Hut vor den Machern für diesen Mut ziehen muss. Dieser Twist wird in vielen Rezensionen verraten, nicht selten im ersten Satz! In Spanien ist mit diesem Twist sogar für die Serie geworben worden. Der Twist ist also kein allzu großes Geheimnis, gerade auch, weil er so früh stattfindet, dass er im Grunde als Abschluss des Prologs betrachtet werden darf, wenn man die erste Episode in seiner Gesamtheit als einen Prolog betrachtet.

Aus diesem Grund sei an dieser Stelle ein Fazit erlaubt – bevor der Twist verraten wird. Wer also kein Interesse daran hat, sich spoilern zu lassen, wird rechtzeitig gewarnt. Wer dann noch weiterliest, ist selbst Schuld! «Disco Paraiso» ist nicht schlecht. Die Geschichte ist originell, sie nimmt im Verlauf der Handlung einige überraschende Wendungen, Ausstattung und Musik sind überdurchschnittlich gut. Dramaturgisch gerät sie jedoch mehrfach aus dem Takt und ausgerechnet die Hauptfigur will keine Funken fliegen lassen. Allerdings ist da ja noch der interessante Twist, der nun verraten wird.


«Disco Paraiso» wird in erster Linie aus der Perspektive von Javi, Quino, Álvaro und Zeta erzählt. Nicht ausschließlich. Es gibt auch die Perspektive Paulas und sogar einige Momente, die wir aus den Augen von Zhou erleben; in den meisten Fällen aber sind es Javi, Quino, Álvaro und Zeta, die durch ihre Entdeckungen die Handlung vorantreiben. Das Problem: Es fällt ihnen schwer, diese Entdeckungen mit ihrer Umwelt zu teilen, denn am Ende der ersten Episode kommen sie aus der brennenden Discothek nicht raus. Javi, Quino, Álvaro und Zeta sind Geister. Womit «Disco Paraiso» eine Geisterserie wäre, was sie aber erst am Ende der ersten Episoden der Zuschauerschaft verrät. In Spanien jedoch ist mit genau diesem Twist die Serie beworben worden!

Die Serie ist bei Sky streambar.

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