Interview

Orkun Ertener: ‚Sag niemals nie, aber «Neuland» ist eine abgeschlossene Miniserie‘

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«Neuland»-Autor Ertener würde sich freuen, wenn die Mediatheken seine Inhalte länger anzeigen dürften.

Hallo Herr Ertener. Das ZDF strahlt «Neuland» an zwei Tagen zwischen den Jahren aus, bereits am 14. November 2022 ist die Serie vollständig in der Mediathek zu sehen. Haben Sie bei solchen Terminen eigentlich Mitspracherecht?
Nein, in keiner Weise, zum Glück. Dafür ist die Programmplanung des ZDF zuständig, und ich gehe davon aus, dass dies tatsächlich „höhere Mathematik“ ist, bei der viele Faktoren zu berücksichtigen sind. Ich bin jedenfalls sehr zufrieden mit der Terminierung von Mediathekenstart und Ausstrahlung und generell sehr dankbar für die Aufmerksamkeit, die das ZDF dieser Serie schenkt und auch beim Publikum für sie zu gewinnen versucht.

Ein Jahr lang ist «Neuland» in der Mediathek zu sehen, dann muss man entweder ZDFselect abonnieren oder auf eine neue Ausstrahlung hoffen. Würden Sie sich wünschen, dass die Politiker die Weichen stellen, dass die Serien dauerhaft streambar bleiben?
Ich würde mir allgemein wünschen, dass die Mediatheken der Öffentlich-Rechtlichen mehr als heute als eigenständige und attraktive Streamingportale wahrgenommen werden, nicht zuletzt vom jüngeren Publikum, und dafür ausreichende rechtliche Grundlagen vorhanden sind. Dies ist ja auch, so wie ich es verstehe, ein wichtiges Ziel der Sender für die allernächste Zeit, wenn nicht das wichtigste Ziel überhaupt. Schon jetzt ist ein Angebot vorhanden, das sich qualitativ neben anderen Streaminganbietern nicht zu verstecken braucht, seien es hochwertige eigene Produktionen oder Übernahmen wie «Beforeigners», eine Serie, die ich dort fast gefunden habe und sehr schätze. Aus meiner Sicht wird es höchste Zeit, das Angebot zu entdecken, aber auch: es weiter auszubauen.

Kommen wir jetzt inhaltlich zu «Neuland». Im Mittelpunkt ist die alleinerziehende Mutter Alexandra, die verschwindet. Ihre Schwester Karen, wird von einem Auslandseinsatz der Bundeswehr nach Hause gerufen, um ihre Nichten zu versorgen. Doch seit einem Einsatz in Afghanistan ist sie suchtkrank. Ziemlich viel harter Tobak auf einmal für sechs Folgen?
Ob es viel harter Tobak ist, also zu viel, wird das Publikum entscheiden, das steht mir als Autor nicht zu. Aber allgemein gesprochen sind dicht erzählte Miniserien mit komplexen Charakteren und komplexer Handlung nach meinem Eindruck heute eher die Regel als die Ausnahme. Da fügt sich „Neuland“ durchaus ein. Eine andere Frage ist immer, ob die Erzählung mitreißt, unterhält, nachhallt, kurz: ob die Serie gelungen ist. Und das, wie gesagt, beurteilen Publikum und Kritik.

Das Rätsel um Alexandras Verschwinden wird aufgelöst?
Sag niemals nie, aber «Neuland» ist eine abgeschlossene Miniserie, die nicht auf Verlängerung angelegt ist. Das Potential, die Geschichten der Figuren weitererzählen zu können, ist grundsätzlich vorhanden, zumal am Ende nicht wie bei Shakespeare alle tot auf der Bühne liegen, und ich selbst könnte mir inhaltlich unter Umständen eine Forterzählung vorstellen, allerdings nur ebenso grundsätzlich und theoretisch. Man muss nicht immer jedes Potential ausschöpfen.

«Neuland» erzählt vorwiegend die Geschichte des weiblichen Geschlechts.
Ein zentrales Thema der Serie ist die Frage, wie wir heute leben, wie sich nicht nur unsere Lebensweise, sondern auch die Anforderungen geändert und verstärkt haben, an uns selbst, unsere Partner, unsere Kinder. Wie erleben wir die Widersprüche zwischen Selbstverwirklichung und Verantwortung, wie kommen wir mit den immer drängenderen Geboten der Optimierung und Selbstoptimierung zurecht, wie verteilen wir die Rollen zwischen den Geschlechtern neu? Wenn man sich dann fragt, wer spürt immer noch den stärksten Druck, wer hat die größten Ansprüche an sich selbst, wen belasten die neuen Rollen am meisten, ist es naheliegend, dass die weibliche Perspektive die entscheidende und vielleicht auch interessantere ist. Erzählenswert finde ich auch die Perspektive einer Soldatin, auch eine vergleichsweise sehr neue weibliche Rolle, die buchstäblich aus dem Krieg in den vermeintlichen Frieden ihrer Heimat zurückkommt.

Die Serie ist eine Geschichte um Mittelstandskinder, überforderter Eltern, Gewalt in Schulen und eine verschwundene Frau. Klingt ja fast wie das normale Leben?
Verschwundene Menschen gehören hoffentlich nicht zum „normalen Leben“, obwohl das Phänomen doch öfter vorkommt, als man vermuten möchte. Bei allem anderen allerdings haben wir uns bemüht, trotz aller notwendigen dramaturgischen Zuspitzung in einer Serie, die vor allem unterhalten soll, so alltagsnah und realistisch wie möglich zu erzählen. Wenn es funktioniert, entdecken Zuschauerinnen und Zuschauen vielleicht Ähnlichkeiten zum eigenen Leben oder zum eigenen Umfeld, vielleicht auch Ähnlichkeiten, die man gar nicht entdecken möchte.

Bei diesem Projekt sind Sie nicht nur Autor, sondern auch Produzent. Erleichtert das Ihre Arbeit?
Ich finde es interessant, manchmal auch ein bisschen amüsant, dass diese Frage oft so gestellt wird: welchen Nutzen hat die Doppelrolle als Autor und Creative Producer für den Autor? Viel wichtiger scheint mir aber die Frage zu sein, welchen Nutzen hat die Arbeitsweise, dass der Autor von der Entwicklung bis zur Abnahme am gesamten Entstehungsprozess eines Projekts verantwortlich beteiligt ist, für das Ergebnis? Ich bin überzeugt davon, dass dadurch die Qualität wächst und dabei Produkte aus einem Guss entstehen, dass aber auch die Arbeit der anderen Gewerke erleichtert werden. International ist diese Arbeitsweise im Serienbereich Standard und auch bei uns ist sie zum Glück nicht mehr wirklich neu. Wir müssen die neuen Aufgaben und Berufsrollen sicher noch eine Weile einüben, bis sie fest verankert sind, aber ich denke, dass es sich lohnt und dies in der neuen Serienlandschaft unvermeidlich ist.

Hätten Sie «Neuland» auch in vier Episoden erzählen können? Wie entstand die Serie und wer legte schlussendlich fest, welchen Rahmen die Geschichten bekamen?
Gerade «Neuland» hätte ich wegen der Komplexität und Fülle des Stoffes in vier Folgen weder erzählen können noch wollen und war daher dankbar für die Möglichkeit zu 6 x 45 Minuten. Diesen formalen Rahmen, wenn die Frage darauf abzielt, hat das ZDF natürlich vorgegeben; es ist dort die übliche Folgenzahl von Miniserien. Zu der Serie kam es, weil bei der Redaktion und mir der gegenseitige Wunsch nach einer Zusammenarbeit bestand. Bei einem Gespräch, das noch während meiner längeren „Fernsehpause“ stattfand, in der ich Romane schrieb, habe ich die «Neuland»-Idee in Grundzügen skizziert und bin erfreulicherweise sofort auf Interesse und Unterstützung der Redaktion gestoßen.

Miniserien sind derzeit ein weltweiter Trend. Ist das Genre deshalb so beliebt, weil die Zuschauer endlich einmal Serien zu Ende sehen wollen?
Das ist eine sehr gute Frage, die ich mir auch stelle und die ich erstmal nur persönlich beantworten kann: Auch ich freue mich nach den vielen langlaufenden Serien, die man liebt, bei denen man aber im besten Fall ein Jahr warten muss, bis es weitergeht, oft mit schlafraubenden Cliffhangern, über gut erzählte Geschichten, die nach sechs oder acht Folgen ein dramaturgisch befriedigendes Ende finden. Manchmal wünsche ich mir allerdings eine Fortsetzung, und dies dürfte von Anbieterseite auch ein Grund für den Trend sein: Im Erfolgsfall kann es weitergehen, aber wenn es nicht weitergeht, ist es kein Scheitern. Ein gutes aktuelles Beispiel ist die wunderbare HBO-Miniserie «White Lotus», die nach ihrem immensen Erfolg fortgesetzt wird: interessanterweise mit einer – von einer Ausnahme abgesehen – komplett anderen Besetzung und in einem anderen Setting.

Aus Ihrer Feder stammt die Serie «Letzte Spur Berlin». Über 100 Folgen hat Novafilm schon produziert. Ist dort ein Ende in Sicht oder bleibt das Format ein Dauerbrenner?
Mit «Letzte Spur Berlin» haben Odeon Fiction und das ZDF tatsächlich eine unglaubliche Erfolgsgeschichte geschrieben. Ich selbst habe vor etwa zwölf Jahren das Konzept entwickelt, das Pilotbuch geschrieben und, wenn ich mich richtig erinnere, die Storys der ersten Staffel skizziert. Dann bin ich zu anderen Projekten weitergezogen und habe die weitere Entwicklung der Serie mit großer Freude von außen verfolgt. Den Kolleginnen und Kollegen ist wirklich ein Dauerbrenner gelungen, zu dem ich herzlich gratuliere, und ich wüsste nicht, warum bei einem solchen Erfolgsformat ein Ende in Sicht sein sollte.

Danke für Ihre Zeit!

«Neuland» ist in der ZDFmediathek verfügbar.

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